Wie ist der intelligible und der empirische Charakter nach Schopenhauer/Kant zu verstehen?

Volker Spierling kleines Schopenhauer Lexikon - (Menschen, Wissen, Philosophie)

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Die Frage enthält anspruchsvolle Probleme. Für den intelligiblen und der empirischen Charakter gilt unter den genannten Gesichtspunkten (Raum, Zeit, Kausalität) Gegenteiliges, wie richtig verstanden ist. Genauer zu fassen ist eine Aussage über den intelligiblen Charakter als „Drahtzieher des Determinismus“. Da der intelligible Charakter als Ding an sich zugrundeliegt, geht eine Determinierheit auf ihn zurück. Determinierheit in der Bedeutung von Notwendigkeit gibt es nach Schopenhauers Auffassung aber im Empirischen. Dabei unterliegt alles einer Form der Erscheinung. Im Bereich des Intelligiblen besteht dagegen eine transzendentale Freiheit, keine Notwendigkeit infolge einer Kausalität. Die Freiheit bezieht sich in Schopenhauers Auffassung in seiner Abhandlung „Ueber die Freiheit des menschlichen Willens“ (1838 geschrieben und zuerst 1840 veröffentlicht) nicht auf Handlungen, sondern auf Sein und Wesen.

Zu einer Erkennbarkeit des intelligiblen Charakters wird ein indirekter Weg versucht. Etwas im Bereich von Erfahrung wird als von ihm hervorgerufen gedeutet, also als Wirkung des intelligiblen Charakters. Davon ausgehend werden Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des des intelligiblen Charakters gezogen. Direkt in sich selbst (einem Ich, Bewußtsein oder etwas Ähnlichem) den intelligiblen Charakter zu suchen und zu erkennen ist keinesfalls möglich. Es ist möglich, Gedanken darüber zu haben, aber von Intelligiblem gibt es keine sinnliche Anschauung. Es ist möglich, einen allgemeinen Begriff des intelligiblen Charakters zu haben.

Immanuel Kant stuft in seiner theoretischen Philosophie den intelligiblen Charakter als etwas ein, das nicht erkennbar ist und zu dem nur Spekulationen möglich sind, wie er an sich sei. In seiner praktischen Philosophie nimmt er ein „als ob“ (was weniger als sichere Erkenntnis ist) als Grundlage und meint von einer intelligiblen Ursache, dem Freiheitsvermögen, sie könne aus den Erscheinungen erschlossen werden. Dabei findet er allerdings nicht wirklich einen Weg, Widersprüchlichkeit zu vermeiden.

Arthur Schopenhauer wagt sich mit einer Auffassung, was das Ding an sich sei, weiter vor, und bestimmt dieses als Willen. Strenggenommen handelt es sich dabei nicht um eine erkannte objektive Wahrheit, sondern um einen Annäherungsversuch/einen behelfsweisen Ansatz, wie ihm klar ist.

Die Abbildung bezeiht sich offenbar auf Volker Spierling, Schopenhauer-ABC. Originalausgabe. 1. Auflage. Leipzig : Reclam, 2003 (Reclams Universal-Bibliothek ; Band 20052), S. 110 – 111 (Intelligibler Chrakter) S. 111:  

„Auch der Metaphysiker Schopenhauer kann die Welt als Vorstellung, die prinzipielle Gebundenheit der Welt an ein Bewußtsein, was ihre Phänomenalität bedingt, nicht überfliegen. Der «außerzeitliche Willensakt» des intelligiblen Charakters ist keine objektive Wahrheit, sondern behelfsmäßiger Ausdruck, ein heuristischer Erklärungsversuch. Schopenhauer macht eine erkenntnistheoretische Einschränkung. Er schreibt am 21.8.1844 an den Juristen Johann August Becker: «Daß der intelligible Charaklter des Menschen ein außerzeitlicher Willensakt sei, habe ich nicht als objektive Wahrheit, oder als adäquaten Begriff des Verhältnisses zwischen Ding an sich und Erscheinung dargestellt; vielmehr bloß als Bild und Gleichniß, als figürlichen Ausdruck der Sache, indem ich sage, man könne, um die Sache faßlich zu machen, sie so denken.»“

Schopenhauer würde nicht sagen, eine Person sei (in Wahrheit/eigentlich; auf der Ebene des Dings an sich) gar nicht so, wie sie aufgrund ihrer Beschaffenheit handle. Notwendigkeit/Fehlen von Freiheit ist nach seiner Auffassung durch die Form der Erscheinungen bedingt. Freiheit gibt es nach seiner Auffassung nicht bei Handlungen, sondern beim Sein und Wesen der Personen. Die Personen hätten außerzeitlich/vorgeburtlich in einer Entscheidung ihren Charakter bestimmt (eine metaphysische Auffassung über Freiheit). Von der Auffassung eines dann festgelegten Charakters und strikt determinierten Handlungen abweichend hat Schopenhauer später dann in Ausnahmefällen doch eine Möglichkeit der Freiheit beim Handeln angenommen.

Determiertheit (die Auffassung vom Vorhandensein von Determiertheit wird Determinismus genannt) meint, wenn sie Willensfreiheit gegenüber gestellt wird, üblicherweise nicht nur, etwas sei irgendwie bestimmt (determiert), sondern es sei auf völlig notwendige Weise bestimmt (determiniert in dieser Bedeutung kann necessitiert oder nezessitiert genannt werden; lateinisch necesse est = es ist notwendig) und bei einem Zustand zu einem Zeitpunkt könne bei der Ausgangslage unter den gegebenen Bedingungen/Umständen und vorliegenden Gesetzmäßigkeiten nur ein einziger Zustand folgen. Bei Schopenhauer gibt es diesen Ausdruck in der Schreibweise „necessitirt“.

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. 3. vermehrte und verbesserte Auflage 1859. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Ergänzungen zum zweiten Buch. Kapitel 25. Transscendente Betrachtungen über den Willen als Ding an sich:

„Erinnern wir uns jetzt an eine Wahrheit, deren ausführlichsten und gründlichsten Beweis man in meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens findet, an diese nämlich, daß, kraft der ausnahmslosen Gültigkeit des Gesetzes der Kausalität, das Thun oder Wirken aller Wesen dieser Welt, durch die dasselbe jedesmal hervorrufenden Ursachen, stets streng necessitirt eintritt; in welcher Hinsicht es keinen Unterschied macht, ob es Ursachen im engsten Sinne des Worts, oder aber Reize, oder endlich Motive sind, welche eine solche Aktion hervorgerufen haben; indem diese Unterschiede sich allein auf den Grad der Empfänglichkeit der verschiedenartigen Wesen beziehn. Hierüber darf man sich keine Illusion machen: das Gesetz der Kausalität kennt keine Ausnahmen; sondern Alles, von der Bewegung eines Sonnenstäubchens an, bis zum wohlüberlegten Thun des Menschen, ist ihm mit gleicher Strenge unterworfen. Daher konnte nie, im ganzen Verlauf der Welt, weder ein Sonnenstäubchen in seinem Fluge eine andere Linie beschreiben, als die es beschrieben hat, noch ein Mensch irgend anders handeln, als er gehandelt hat: und keine Wahrheit ist gewisser als diese, daß Alles was geschieht, sei es klein oder groß, völlig nothwendig geschieht. Demzufolge ist, in jedem gegebenen Zeitpunkt, der gesammte Zustand aller Dinge fest und genau bestimmt, durch den ihm soeben vorhergegangenen; und so den Zeitstrohm aufwärts, ins Unendliche hinauf, und so ihn abwärts, ins Unendliche herab. Folglich gleicht der Lauf der Welt dem einer Uhr, nachdem sie zusammengesetzt und aufgezogen worden: also ist sie, von diesem unabstreitbaren Gesichtspunkt aus, eine bloße Maschine, deren Zweck man nicht absieht. Auch wenn man, ganz unbefugterweise, ja, im Grunde, aller Denkbarkeit, mit ihrer Gesetzlichkeit, zum Trotz, einen ersten Anfang annehmen wollte; so wäre dadurch im Wesentlichen nichts geändert. Denn der willkürlich gesetzte erste Zustand der Dinge, bei ihrem Ursprung, hätte den ihm zunächst folgenden, im Großen und bis auf das Kleinste herab, unwiderruflich bestimmt und festgestellt, dieser wieder den folgenden, und so fort, per secula seculorum; da die Kette der Kausalität, mit ihrer ausnahmslosen Strenge, – dieses eherne Band der Nothwendigkeit und des Schicksals, – jede Erscheinung unwiderruflich und unabänderlich, so wie sie ist, herbeiführt. Der Unterschied liefe bloß darauf zurück, daß wir, bei der einen Annahme, ein ein Mal aufgezogenes Uhrwerk, bei der andern aber ein perpetuum mobile vor uns hätten, hingegen die Nothwendigkeit des Verlaufs bliebe die selbe. Daß das Thun des Menschen dabei keine Ausnahme machen kann, habe ich in der angezogenen Preisschrift unwiderleglich bewiesen, indem ich zeigte, wie es aus zwei Faktoren, seinem Charakter und den eintretenden Motiven, jedesmal streng nothwendig hervorgeht: jener ist angeboren und unveränderlich, diese werden, am Faden der Kausalität, durch den streng bestimmten Weltlauf nothwendig herbeigeführt.“

Aphorismen zur Lebensweisheit

Eine Ethik mit Aussagen, was gut und schlecht bzw. richtig und falsch ist, baut auf Freiheit als Voraussetzung auf, weil sie nur dann sinnvoll sein kann. Aphorismen zur Lebensweisheit könnten, auch wenn ein strikter (strenger und ausnahmsloser) Determinismus vertreten wird, immer noch zur einer Erkenntnis/Selbsterkenntnis beitragen (wobei allerdings deren Zustandekommen oder Nicht-Zustandekonmmen dann ebenfalls als notwendig zu verstehen wäre). Schopenhauer nimmt auch eine Innensteuerung an, wobei sich dann eine Notwendigkeit vollzieht, indem ein Motiv sich durchsetzt. Schopenhauer ist vielleicht auch der Meinung gewesen, ein nützliches Werk zu schreiben, weil Menschen mit seinen Hinweisen besser erkennen können, was sie sich zumuten und zutrauen und sich entsprechend in Situationen hineinbegeben, in denen dann geeignete Motive einwirken.

Zusätzlich ist die Frage, ob Schopenhauer einen strikten Determinismus vertreten hat, verwickelter, als dies nach einem ersten Eindruck zunächst verscheint. Einerseits gibt es klare Behauptungen Schopenhauers über eine Determiniertheit, andererseits auch über transzendentale Freiheit. In Bezug auf Handlungen und ihr Wollen ist außerdem sein Standpunkt nicht überall einheitlich.

Immanuel Kant

In der empirischen Welt (Erscheinungswelt) fallen nach Kants Auffassung alle Ereignisse, also auch die Handlungen, unter strikt deterministische Kausalgesetze. Zugleich gibt es die Annahme, Handlungen von selbst anfangen zu können. Kant versucht eine Auflösung des Widerspruchs (er bezeichnet das Vereinbarkeitsproblem als „Antinomie der Freiheit“), indem er neben die Naturkausalität eine zweite Art von Kausalität stellt (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. 1. Auflage 1781. 2. Auflage 1787. II. Transscendentale Elementarlehre. Zweite Abtheilung. Die transscendentale Dialektik. Zweites Buch. Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft. 2. Hauptstück. Die Antinomie der reinen Vernunft. 9. Abschnitt. Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Princips der Vernunft in Ansehung aller kosmologischen Ideen. III. Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen; Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. 1781. Zweites Buch. Dialektik der reinen praktischen Vernunft. Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut. II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft).

Das praktische Subjekt stellt ein doppeltes Selbstverständnis her, mit den Sichtweisen als Wesen der Sinnenwelt (phänomenale Welt der Erscheinungen) und Wesen der Verstandes-/Vernunftwelt (als Vernunftwesen [noumenon] in einer intelligiblen Welt). Moralische Handlungen, die unter dem „Gesetz der Freiheit“ geschehen, gehören ihrem Wesen nach zum Verhalten von Wesen der intelligiblen Welt und können ohne Bezugnahme auf diese Sichtweise nicht als möglich gedacht werden.

Dem Willen wird die Möglichkeit zugesprochen, von sich aus eine Kausalreihe zu beginnen. Ein allein durch die gesetzgebende Form bestimmter Wille fällt nicht unter die Erscheinungen und ihren Kausalitätsgrundsatz. Freie Handlungen haben einen Bestimmungsgrund, die Autonomie der Vernunft, die sich unabhängig von Antrieben der Sinnenwelt ein Gesetz gibt (Selbstgesetzgebung). Der Bestimmungsgrund wird von Kant als eine Kausalität (Kausalität durch/aus Freiheit) verstanden, die aber kein fremder, von außen kommender und strikt determiniernder Zwang ist.

Kant schließt aus einer Unmöglichkeit, die eigenen Entscheiungen und Handlungen als strikt determiniert aufzufassen, nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln zu können. Dies mache für die praktische Vernunft die Annahme der Freiheit unumgänglich, auch wenn sie theoretisch nicht zu beweisen sei.

Ausgangspunkt ist eine transzendentale Freiheit, eine Unabhängigkeit der Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt. Die Denkbarkeit einer transzendentalen Idee der Freiheit wird gezeigt und ein „als ob“ bildet die Grundlage für eine zumindest gedankliche Wirklichkeit von Freiheit. Auf der Ebene der praktischen Vernunft setzt ein Sollen beim Bewußtsein eines moralischen Gesetzes stets ein Können voraus. Also müssen Personen auch die Fähigkeit haben zu tun, was sie tun sollen, also eine Wahl, sich nach ihren Vernunfteinsichten zu richten.

Vom intelligiblen Charakter haben die Menschen bloß seinen allgemeinen Begriff. Der intelligible Charakter kann niemals unmittelbar gekannt werden, weil nur das, was erscheint wahrgenommen werden kann. Der intelligible Charakter würde dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden müssen, ein den Erscheinungen zugrunde liegender transzendentaler Gegenstand, von dem es kein Wissen gibt, was er an sich selbst sei. Theoretisch ist der intelligible Charakter unerkennbar. In seiner praktischen Philosophie meint Kant, bei einer intelligiblen Ursache, dem Freiheitsvermögen, könne ihre Existenz aus ihrer Wirkung in den Erscheinungen erschlossen werden und sie sei bestimmbar durch das ihre Kausalität bestimmende moralische Gesetz. Kants Darstellung schwankt zwischen unvereinbaren Standpunkten. Einerseits wird die intelligible Ursache als außerhalb/jenseits der Erscheinungen stehend, der empirischen Welt grundsätzlich entgegengesetzt und jeder Erfahrung entzogen verstanden. Andererseits wird die intelligible Ursache nach einer Analogie, durch einen Vergleich zweier Verhältnisse (a) Verknüpfung zwischen intelligibler Ursache und ihrer Wirkung innerhalb der Erscheinungen; b) Verknüpfung zwischen Gegenständen möglicher Erfahrung) gedacht und durch die Analogie bestimmt. Die Anwendung der Kategorie Kausalität auf das Ding an sich ist durch Analogie vermittelt, die auf einem Vergleich gründet. Ein Widersprüchlichkeit vermeidender Ausweg ist nicht bemerkbar.

Arthur Schopenhauer

Der intelligible Charakter kann nicht a priori erkannt werden, aber durch Erfahrung und indirekt, nämlich daran, wie er sich in seinen Grundzügen als empirischer Charakter in vollzogenen Handlungen zeigt. Der Lebensverlauf ist im Wesentlichen vom intelligiblen Charakter geprägt.

Albrecht  17.05.2016, 07:03

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. 3. vermehrte und verbesserte Auflage 1859. Erster Band. Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält. Zweites Buch. Der Welt als Wille erste Betrachtung: Die Objektivation des Willens. § 28.

„Beim Menschen ist schon in jedem Individuo der empirische Charakter ein eigenthümlicher (ja, wie wir im vierten Buche sehn werden, bis zur völligen Aufhebung des Charakters der Species,
nämlich durch Selbstaufhebung des ganzen Wollens). Was, durch die nothwendige Entwickelung in der Zeit und das dadurch bedingte Zerfallen in einzelne Handlungen, als empirischer Charakter erkannt wird, ist, mit Abstraktion von dieser zeitlichen Form der Erscheinung, der intelligible Charakter, nach dem Ausdrucke Kants, der in der Nachweisung dieser Unterscheidung und Darstellung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, d.h. eigentlich zwischen dem Willen als Ding an sich und seiner Erscheinung in der Zeit, sein unsterbliches Verdienst besonders herrlich zeigt. Der intelligible Charakter fällt also mit der Idee, oder noch eigentlicher mit dem ursprünglichen Willensakt, der sich in ihr offenbart, zusammen: insofern ist also nicht nur der empirische Charakter jedes Menschen, sondern auch der jeder Thierspecies, ja jeder Pflanzenspecies und sogar jeder ursprünglichen Kraft der unorganischen Natur, als Erscheinung eines intelligibeln Charakters, d.h. eines außerzeitlichen untheilbaren Willensaktes anzusehn.“

„Der Charakter jedes einzelnen Menschen kann, sofern er durchaus
individuell und nicht ganz in dem der Species begriffen ist, als eine
besondere Idee, entsprechend einem eigenthümlichen Objektivationsakt des Willens, angesehn werden. Dieser Akt selbst wäre dann sein intelligibler Charakter, sein empirischer aber die Erscheinung desselben. Der empirische Charakter ist ganz und gar durch den intelligibeln, welcher grundloser, d.h. als Ding an sich dem Satz vom Grund (der Form der Erscheinung) nicht unterworfener Wille ist, bestimmt. Der empirische Charakter muß in einem Lebenslauf das Abbild des intelligibeln liefern, und kann nicht anders ausfallen, als das Wesen dieses es erfordert. Allein diese Bestimmung erstreckt sich nur auf das Wesentliche, nicht auf das Unwesentliche des demnach erscheinenden Lebenslaufes. Zu diesem Unwesentlichen gehört die nähere Bestimmung der Begebenheiten und Handlungen, welche der Stoff sind, an dem der empirische Charakter sich zeigt. Diese werden von äußern
Umständen bestimmt, welche die Motive abgeben, auf welche der Charakter seiner Natur gemäß reagirt, und da sie sehr verschieden seyn können, so wird sich nach ihrem Einfluß die äußere Gestaltung der Erscheinung des empirischen Charakters, also die bestimmte faktische oder historische Gestaltung des Lebenslaufes, richten müssen. Diese wird sehr verschieden ausfallen können, wenn gleich das Wesentliche dieser Erscheinung, ihr Inhalt, der selbe bleibt: so z.B. ist es unwesentlich, ob man um Nüsse oder Kronen spielt: ob man aber beim Spiel betrügt, oder ehrlich zu Werk geht, das ist das Wesentliche: dieses wird durch den intelligibeln Charakter, jenes durch äußern Einfluß bestimmt. Wie das selbe Thema sich in hundert Variationen darstellen kann, so der selbe Charakter in
hundert sehr verschiedenen Lebensläufen. So verschiedenartig aber auch der äußere Einfluß seyn kann, so muß dennoch, wie er auch ausfalle, der sich im Lebenslauf ausdrückende empirische Charakter den intelligibeln genau objektiviren, indem er seine Objektivation dem dem vorgefundenen Stoffe faktischer Umstände anpaßt“

Freiheit versteht Schopenhauer negativ («Freiheit von»), als Abwesenheit von Hindernissen/Hemmnissen. Bei der Kausalität versteht er Folgen als durch Ursachen notwendig gegeben.

Artur Schopenhauer verneint in seiner Abhandlung über die Freiheit des Willens die Existenz menschlicher Willensfreiheit („moralische Freiheit“ genannt). Seiner Auffassung nach hat der Mensch Handlungsfreiheit, aber keine Freiheit beim Wollen.

Der Mensch könne unter gegebenen Umständen insofern nicht anders handeln, als er tatsächlich handelt, als er nur etwas etwas Bestimmtes (dieses Eine) wollen könne.

Der Mensch könne zwar grundsätzlich (wenn Handlungsfreiheit besteht) tun, was er wolle, aber vermöge nicht, eine andere Handlung auszuführen als die tatsächlich ausgeführte, weil die der anderen Handlung entgegensetzten Motive viel zu viel Gewalt über ihn haben, als daß er anders wollen könnte. Wenn er einen bestimmten anderen Charakter hätte, würde er es wollen können, aber auch nicht umhin kommen, es zu wollen, also es wollen müssen. Unter gegebenen Umständen sei nur eine Handlung möglich. Von außen betrachtet gelte ein ausnahmsloses Kausalgesetz, von innen betrachtet das Gesetz der Motivation, nach dem sich das stärkste Motiv durchsetzt. Unter Voraussetzung der Willensfreiheit sei jede menschliche Handlung ein unerklärliches Wunder, eine Wirkung ohne Ursache.

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Albrecht  17.05.2016, 07:11

Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften (2., verbesserte und vermehrte Auflage 1860). I. Ueber die Freiheit des menschlichen Willens. II. Der Wille vor dem Selbstbewußtseyn.  

„Das Selbstbewußtseyn eines Jeden sagt sehr deutlich aus, daß er thun kann was er will. Da nun auch die entgegengesetzte Handlungen als von ihm gewollt gedacht werden können; so folgt allerdings, daß er auch Entgegengesetztes thun kann, wenn er will. Dies verwechselt nun der rohe Verstand damit, daß er, in einem gegebenen Fall, auch Entgegengesetztes wollen könne, und nennt dies die Freiheit des Willens. Allein daß er, in einem gegebenen Fall, auch Entgegengesetztes wollen könne, ist schlechterdings nicht in obiger Aussage enthalten, sondern bloß dies, daß von zwei entgegengesetzten Handlungen, er, wenn er diese will, sie thun kann, und wenn er jene will, sie ebenfalls thun kann: ob er aber die eine so wohl als die andere, im gegebenen Fall, wollen könne, bleibt dadurch unausgemacht und ist Gegenstand einer tiefern Untersuchung, als durch das bloße Selbstbewußtseyn entschieden werden kann.“

„Also jene unleugbare Aussage des Selbstbewußtseyns „ich kann thun, was ich will“ enthält und entscheidet durchaus nichts über die Freiheit des Willens, als welche darin bestehen müsse, daß der jedesmalige Willensakt selbst, im einzelnen individuellen Fall, also bei gegebenen individuellen Charakter, nicht durch die äußeren Umstände, in denen hier der Mensch sich befindet, nothwendig bestimmt würde, sondern jetzt so und auch anders ausfallen könnte. Hierüber aber bleibt das Selbstbewußtseyn völlig stumm: denn die Sache liegt ganz außer seinem Bereich; da sie auf dem Kausalverhältnis zwischen der Außenwelt und dem Menschen beruht.“

„Die berichtigte Antwort auf sein Thema aber würde, wie ich im folgenden Abschnitt außer Zweifel zu setzen hoffe, lauten: „Du kannst thun, was du willst: aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblicke deines Lebens, nur Ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nichts anderes, als dieses Eine.““

„Bei einem solchen succesiven Vorstellen verschiedener einander ausschließender Motive unter steter Begleitung des inneren „ich kann thun was ich will“ dreht sich gleichsam der Wille, wie eine Wetterfahne auf wohlgeschmierter Angel und bei unstätem Winde, sofort nach jedem Motiv hin, welches die Einbildungskraft ihm hinhält, succesiv nach allen als möglich vorliegenden Motiven, und bei jedem denkt der Mensch, er könne es wollen und also die Fahne auf diesen Punkt fixieren; welches bloße Täuschung ist. Denn sein „ich kann dies wollen“ ist in Wahrheit hypothetisch und führt den Beisatz mit sich „wenn ich nicht lieber jenes Andere wollte:“ der aber hebt jedes Wollenkönnen auf.“

„Ich kann thun, was ich will: Ich kann, wenn ich will, Alles, was ich habe, den Armen geben und dadurch selbst einer werden, - wenn ich will! - Aber ich vermag nicht, es zu wollen; weil die entgegenstehenden Motive viel zu viel Gewalt über mich haben, als daß ich es könnte. Hingegen wenn ich einen anderen Charakter hätte, und zwar in dem Maaße, daß ich ein Heiliger wäre, dann würde ich es wollen können, dann aber würde ich auch nicht umhin können, es zu wollen, würde es also thun müssen."

„Es ist durchaus weder Metapher noch Hyperbel, sondern ganz trockene und buchstäbliche Wahrheit, daß, so wenig eine Kugel auf dem Billard in Bewegung geratken kann, ehe sie einen Stoß erhält, ebenso wenig ein Mensch von seinem Stuhle aufstehen kann, ehe ein Motiv ihn weg zieht oder treibt; dann aber ist sein Aufstehen so nothwendig und unausbleiblich, wie das Rollen einer Kugel nach dem Stoße.“

In der zeitlichen und räumlichen Erscheinungswelt gilt entsprechend dem Grundsatz vom zureichenden Grunde ein striktes, ausnahmsloses Kausalgesetz. Nach Arthur Schopenhauer ist der Satz vom zureichenden Grund (Nichts ist ohne Grund, warum es sei und nicht vielmehr nicht sei) ein Urgesetz des menschlichen Verstandes und der allgemeinste Ausdruck für die Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit von Bewußtseinsinhalten aller Art. Er drückt die apriorische (aller Erfahrung vorausgehende; dies greift Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, auf) Verbindung aller Vorstellungen des Subjekts aus. Alle Dinge, die uns auf irgendeine Art erscheinen (Objekte), sind Vorstellungen eines wahrnehmenden und denkenden Ichs (Subjekt).

Das Kausalgesetz gilt also apriori (vor aller Erfahrung). Denn es stellt die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt dar. Bei Objekten der Außenwelt geschehe auf eine gegebene Ursache eine Folge mit zwangsläufiger Notwendigkeit. Wenn die Innenwelt betrachtet wird, gilt ebenso ein Kausalverhältnis. Das stärkste Motiv/der stärkste Beweggrund setzt sich durch. Bei der Motivation liege nur eine besondere Ausformung eines allgemeinen Kausalprinzips vor.

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Albrecht  17.05.2016, 07:18

Nach Schopenhauers Auffassung ist der empirische Charakter jedes einzelnen Menschen individuell, angeboren, gleichbleibend und unveränderlich (konstant).

Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften (2., verbesserte und vermehrte Auflage 1860). I. Ueber die Freiheit des menschlichen Willens. III. Der Wille vor dem Bewußtseyn anderer Dinge.  

Der Charakter des Menschen ist: 1) individuell: er ist in jedem ein anderer.“

Der Charakter des Menschen ist: 2) empirisch: Durch Erfahrung allein lernt man ihn kennen, nicht bloß an anderen, sondern auch an sich selbst.“

Der Charakter des Menschen ist: 3) konstant: er bleibt der selbe, das ganze Leben hindurch.“

„Der individuelle Charakter ist angeboren: er ist kein Werk der Kunst, oder dem Zufall unterworfenen Umstände; sondren das Werk der Natur selbst.“

V. Schluß und höhere Ansicht.  

„Der Charakter ist die empirisch erkannte, beharrliche und unveränderliche Beschaffenheit eines individuellen Willens.“

„Der empirische Charakter nämlich ist, wie der ganze Mensch, als Gegenstand der Erfahrung eine bloße Erscheinung, daher an die Formen aller Erscheinung, Zeit, Raum und Kausalität gebunden und deren Gesetzen unterworfen: hingegen ist die als Ding an sich von diesen Formen unabhängige und deshalb keinem Zeitunterschied unterworfene, mithin beharrende und unveränderliche Bedingung und Grundlage dieser ganzen Erscheinung sein intelligibler Charakter, d. h. sein Wille als Ding an sich, welchem, in solcher Eigenschaft, allerdings auch absolute Freiheit, d. h. Unabhängigkeit vom Gesetz der Kausalität (als einer bloßen Form der Erscheinungen) zukommt. Diese Freiheit aber ist eine transcendentale, d. h. nicht in der Erscheinung hervortretende, sondern nur insofern vorhandene, als wir von der Erscheinung und allen ihren Form abstrahiren, um zu dem zu gelangen, was, außer aller Zeit, als das innere Wesen des Menschen zu denken ist. Vermöge dieser Freiheit sind alle Thaten des Menschen sein eigenes Werk; so nothwendig sie auch nach dem empirischen Charakter, bei seinem Zusmanhang mit den Motiven, hervorgehen; weil dieser empirische Charakter bloß die Erscheinung des intelligiblen, in unserm an Zeit, Raum und Kausalität gebundenen Erkenntnißvermögen, d. h. die Art und Weise, wie diesem das Wesen an sich unsers eigenen Selbst darstellt. Demzufolge ist zwar der Wille frei, aber nur an sich selbst und außerhalb der Erscheinung: in dieser hingegen stellt er sich schon mit seinem bestimmten Charakter dar, welchem alle seine Thaten gemäß seyn und daher, wenn durch die hinzugetretenen Motive näher bestimmt, nothwendig so und nicht anders ausfallen müssen.

Dieser Weg führt, wie leicht abzusehen, dahin, daß wir das Werk unserer Freiheit nicht mehr, wie es die gemeine Ansicht thut, in unsern einzelnen Handlungen, sondern im ganzen Seyn und Wesen (existentia et essentia) des Menschen zu suchen haben, welches gedacht werden muß als seine freie That, die bloß das an Zeit, Raum und Kausalität geknüpfte Erkenntnißvermögen in seiner Vielheit und Verschiedenheit von Handlungen sich darstellt, welche aber, eben wegen ihrer ursprünglichen Einheit des in ihnen sich Darstellenden, alle genau den selben Charakter tragen müssen und daher als von jedesmaligen Motiven, von denen sie hervorgerufen und im Einzelnen bestimmt werden, streng necessitirt erscheine.“

„Die Freiheit ist also durch meine Darstellung nicht aufgehoben, sondern bloß hinauisgerückt, nämlich aus dem Gebiete der einzelnen Handlungen, wo sie erweislich nicht anzutreffen ist, hinauf in eine höhere Region: d. h. sie ist transcendental.“

Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften (2., verbesserte und vermehrte Auflage 1860). I. Ueber die Grundlage der Moral. II. Kritik des von Kant der Ethik gegebenen Fundaments. §. 11. Kants Lehre vom intelligiblen und empirischen Charakter. – Theorie der Freiheit  

„Die Freiheit gehört nicht dem emprischen, sondern allein dem intelligiblen Charakter an.“

Schopenhauers Argumentation ist von metaphysischen Annahmen abhängig, insbesondere der einer vor jeder Erfahrung geltenden durchgängigen Kausalität in der Art einer zwangsläufigen Notwendigkeit und der eines angeborenen unveränderlichen Charakters, der ohne Spielraum festgelegt ist, indem nach ihm ein Individuum im Grunde die Verwirklichung eines einzigen der Welt zugrundlegenden, nicht von Vernunft geleiteten oder mit ihr verbundenen Willens ist.

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Albrecht  17.05.2016, 07:21

In der zeitlichen und räumlichen Erscheinungswelt gilt entsprechend dem Grundsatz vom zureichenden Grunde ein striktes, ausnahmsloses Kausalgesetz. Nach Arthur Schopenhauer ist der Satz vom zureichenden Grund (Nichts ist ohne Grund, warum es sei und nicht vielmehr nicht sei) ein Urgesetz des menschlichen Verstandes und der allgemeinste Ausdruck für die Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit von Bewußtseinsinhalten aller Art. Er drückt die apriorische (aller Erfahrung vorausgehende; dies greift Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, auf) Verbindung aller Vorstellungen des Subjekts aus. Alle Dinge, die uns auf irgendeine Art erscheinen (Objekte), sind Vorstellungen eines wahrnehmenden und denkenden Ichs (Subjekt).

Wie dennoch Verantwortung bestehen kann, erörtert Schopenhauer in seiner Schrift „Ueber die Freiheit des Willens“ im letzten Abschnitt (V. Schluß und höhere Ansicht.) Eine Tatsache des Bewußtseins sei allerdings ein deutliches Gefühl der Verantwortung. Ein Gefühl der Zurechnungsfähigkeit beruhe auf einer unerschütterlichen Gewißheit, selbst Täter der eigenen Taten zu sein. Die Verantwortlichkeit, die im Bewußtsein auftritt, treffe im Grunde den Charakter, für den sich Jemand verantwortlich fühlt. „Der Charakter ist die empirisch erkannte, beharrliche und unveränderliche Beschaffenheit eines individuellen Willens.“ Ein „Ich will“ begleite alle Handlungen. Es sei das Bewußtsein eines zweiten Faktors (neben dem Motiv) der Handlung, der aber für sich allein ganz unfähig ist, die Handlung hervorzubringen, bei Eintritt des Motivs hingegen unfähig, die Handlung zu unterlassen.

Indem der Mensch in Tätigkeit versetzt werde, gebe er seine Beschaffenheit dem Erkenntnisvermögen kund, lerne also die Beschaffenheit seinen eigenen Willen erst aus seinen Handlungen kennen. Diese nähere und immer innigere Bekanntschaft sei eigentlich das, was man Gewissen nennt.

Schopenhauer knüpft (mit einer gewissen Eigensinnigkeit, indem der Menschen bei ihm vorrangig ein wollendes, nicht aber ein denkendes Wesen ist und indem er das Ding an sich der intelligiblen Welt zuordnet und Aussagen über es zur Grundlage macht, während bei Kant das Ding an sich selbst eine Grenze der Erkenntnis darstellt) an Immanuel Kant an, der zwischen einer empirischen Welt und einer intelligiblen Welt unterscheid. Beim empirischem Charakter gibt es keine Willensfreiheit, beim intelligiblen Charakter eine moralische Freiheit, indem Verantwortung sich darauf gründet, daß alles darauf ankommt, was einer ist. Nach Schopenhauer liegt Freiheit nicht in einzelnen Handlungen, sondern im intelligiblen Charakter, dem ganzen Sein und Wesen (lateinisch: existentia et essentia) des Menschen selbst, das als freie Tat, als Werk seiner selbst gedacht werden müsse.

Schopenhauers Metaphysik unterscheidet die Welt als Wille (Ding an sich) und Vorstellung (Erscheinung). Die Welt als Ding an sich ist keine Erscheinungsform, nicht zeitlich-räumlich und auch nicht an Kausalität (als einer bloßen Form der Erscheinung) gebunden und ihren Gesetzen unterworfen. Der intelligible Charakter des Menschen, das heißt sein Wille als Ding an sich, außerhalb der Erscheinungswelt, ist frei.

Durch Erkundung seines Charakters und eine danach ausgerichtete Vermeidung von Situationen kann innerhalb des Denkansatzes Schopenhauers im Grunde nicht Willensfreiheit existieren und er sagt sogar aus, daß zwar Erkenntnis über sich selbst erreichbar sei, dies aber nichts an der notwendigen Bestimmung ändere.

Wie Schopenhauer sich die Sache denkt, läßt sich zwar nachvollziehen, doch halte ich Zweifel für berechtigt. Wie sich die beiden Welten zueinander verhalten, bliebt ungeklärt. Der intelligible Charakter ist nach Schopenhauer die Grundlage des empirischen Willens. Wenn seine Überlegungen zur Willensfreiheit richtig sind, kann von dorther (dieser Grundlage des, die der intelligible Charakter ist) kein Spielraum für handelnde Menschen begründet werden, der Voraussetzung für echte Verantwortung ist.

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Albrecht  17.05.2016, 07:23

Nach Schopenhauer ist die Welt in ihrer Tiefenschicht ein blinder Wille, der als Ding an sich ohne Ziel, Sinn und Grund (ohne Beweggrund) wirkt und jeder Vorstellung zugrundeliegt. Jeder Willensakt sei ein Streben, aber einzelne individuelle Willensakte hätten einen Ursprung, eine Motivation. In seiner Mitleidsethik versteht Schopenhauer die moralisch wertvolle Tat als Verneinung der Grundtriebfeder Egoismus und Widerspiegelung einer Einsicht, die Trennung zwischen Ich und Du als Täuschung zu erkennen. Die Individuen seien alle Erscheinungen des Willens, Objektationen, mit denen eine Idee, ein Entwurf sich vergegenständlicht, in die Erscheinungswelt eintritt. Dies werde beim Mitleid durchschaut, der innere Widerstreit und die wesentliche Nichtigkeit des Willens der getrennten Individuen zum Leben erkannt. Die unmittelbare Teilnahme erkenne und empfinde intuitiv im Leidenden sich selbst, sein eigenes Wesen. Die Identifikation mit dem anderen, dessen Wohl und Wehe könne die Macht des Egoismus brechen. Schopenhauer tritt für die Verneinung des Willens zum Leben als Weg zur Erlösung ein (Zustand freiwilliger Entsagung). Wo der Wille sein Wollen verloren habe, sei auch die Macht der Natur außer Kraft gesetzt. Der Wille und seine Verneinung seien nicht dem Satz vom Grunde unterworfen, sie gehörten einer metaphysischen Wirklichkeit an. Die Verneinung des Willens führe aus dem Naturzusammenhang heraus.

In seiner Mitleidsethik nimmt Schopenhauer zumindest für einige Menschen Willensfreiheit an, indem die Verneinung des Willens zum Leben im Mitleid die Macht des Egoismus bricht. Eine befriedigende Erklärung, wie dies möglichst sein kann, obwohl seine Abhandlung zur Willensfreiheit dafür keinen Raum läßt, bietet er nicht. Nach Schopenhauer kann der Mensch durch Erkenntnis doch (wenn auch nur in seltenen Ausnahmefällen) Willensfreiheit erreichen, nämlich durch eine besondere Einsicht, das Durchschauen des Prinzip der Individuation (principium individuationis), des Einzeldaseins alles Lebendigen. Er ändert dabei seinen Charakter nicht, sondern hebt ihn auf. Erkenntnis meint beim Mitleid einen vorbegrifflichen, vorrationalen Zustand, in dem der Mensch anders sieht und anders will. Angesichts der miteinander kaum verträglichen Spannungen und Widersprüche der Aussagen ist die Überzeugungskraft wackelig. Wenn so etwas möglich ist, muß ja etwas an der Argumentation gegen die Existenz der Willensfreiheit falsch sein.

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. 3. vermehrte und verbesserte Auflage 1859. Erster Band. Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält. Viertes Buch: Der Welt als Wille zweite Betrachtung: Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben. § 53 – 70 enthält Darlegungen, wie sich Schopenhauer die Begründung von Verantwortung denkt.

§ 55: „Daß der Wille als solcher frei sei, folgt schon daraus, daß er, nach unserer Ansicht, das Ding an sich, der Gehalt aller Erscheinung ist. Diese hingegen kennen wir als durchweg dem Satz vom Grunde unterworfen, in seinen vier Gestaltungen: und da wir wissen, daß Nothwendigkeit durchaus identisch ist mit Folge aus gegebenem Grunde, und Beides Wechselbegriffe sind; so ist Alles was zur Erscheinung gehört, d.h. Objekt für das als Individuum erkennende Subjekt ist, einerseits Grund, andererseits Folge, und in dieser letztern Eigenschaft durchweg nothwendig bestimmt, kann daher in keiner Beziehung anders seyn, als es ist. Der ganze Inhalt der Natur, Ihre gesammten Erscheinungen, sind also durchaus nothwendig, und die Nothwendigkeit jedes Theils, jeder Erscheinung, jeder Begebenheit, läßt sich jedesmal nachweisen, indem der Grund zu finden seyn muß, von dem sie als Folge abhängt. Dies leidet keine Ausnahme: es folgt aus der unbeschränkten Gültigkeit des Satzes vom Grunde. Andererseits nun aber ist uns diese nämliche Welt, in allen ihren Erscheinungen, Objektität des Willens, welcher, da er nicht selbst Erscheinung, nicht Vorstellung oder Objekt, sondern Ding an sich ist, auch nicht dem Satz vom Grunde, der Form alles Objekts, unterworfen, also nicht als Folge durch einen Grund bestimmt ist, also keine Nothwendigkeit kennt, d.h. frei ist. Der Begriff der Freiheit ist also eigentlich ein negativer, indem sein Inhalt bloß die Verneinung der Nothwendigkeit, d.h. des dem Satz vom Grund gemäßen Verhältnisses der Folge zu ihrem Grunde ist.“

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Albrecht  17.05.2016, 07:26

„Der Mensch ist, wie jeder andere Theil der Natur, Objektität des Willens: daher gilt alles Gesagte auch von ihm. Wie jedes Ding in der Natur seine Kräfte und Qualitäten hat, die auf bestimmte Einwirkung bestimmt reagiren und seinen Charakter ausmachen; so hat auch er seinen Charakter, aus dem die Motive seine Handlungen hervorrufen, mit Nothwendigkeit. In dieser Handlungsweise selbst offenbart sich sein empirischer Charakter, in diesem aber wieder sein intelligibler Charakter, der Wille an sich, dessen determinirte Erscheinung er ist. Aber der Mensch ist die vollkommenste Erscheinung des Willens, welche, um zu bestehn, wie im zweiten Buche gezeigt, von einem so hohen Grade von Erkenntniß beleuchtet werden mußte, daß in dieser sogar eine völlig adäquate Wiederholung des Wesens der Welt, unter der Form der Vorstellung, welches die Auffassung der Ideen, der reine Spiegel der Welt ist, möglich ward, wie wir sie im dritten Buche kennen gelernt haben. Im Menschen also kann der Wille zum völligen Selbstbewußtseyn, zum deutlichen und erschöpfenden Erkennen seines eigenen Wesens, wie es sich in der ganzen Welt abspiegelt, gelangen. Aus dem wirklichen Vorhandensein dieses Grades von Erkenntniß geht, wie wir im vorigen Buche sahen, die Kunst hervor. Am Ende unserer ganzen Betrachtung wird sich aber auch ergeben, daß durch die selbe Erkenntniß, indem der Wille sie auf sich selbst bezieht, eine Aufhebung und Selbstverneinung desselben, in seiner vollkommensten Erscheinung, möglich ist: so daß die Freiheit, welche sonst, als nur dem Ding an sich zukommend, nie in der Erscheinung sich zeigen kann, in solchem Fall auch in dieser hervortritt und, indem sie das der Erscheinung zum Grunde liegende Wesen aufhebt, während diese selbst in der Zeit noch fortdauert, einen Widerspruch der Erscheinung mit sich selbst hervorbringt und gerade dadurch die Phänomene der Heiligkeit und Selbstverleugnung darstellt.“

§ 70: „Der Schlüssel zur Vereinigung dieser Widersprüche liegt aber darin, daß der Zustand, in welchem der Charakter der Macht der Motive entzogen ist, nicht unmittelbar vom Willen ausgeht, sondern von einer veränderten Erkenntnißweise. So lange nämlich die Erkenntniß keine andere, als die im principio individuationis befangene, dem Satz vom Grunde schlechthin nachgehende ist, ist auch die Gewalt der Motive unwiderstehlich: wann aber das principum individuationis durchschaut, die Ideen, ja das Wesen der Dinge an sich, als der selbe Wille in Allem, unmittelbar erkannt wird, und aus dieser Erkenntniß ein allgemeines Quietiv des Wollens hervorgeht; dann werden die einzelnen Motive unwirksam, weil die ihnen entsprechende Erkenntnißweise, durch eine ganz andere verdunkelt, zurückgetreten ist. Daher kann der Charakter sich zwar nimmermehr theilweise ändern, sondern muß, mit der Konsequenz eines Naturgesetzes, im Einzelnen den Willen ausführen, dessen Erscheinung er im Ganzen ist; aber eben dieses Ganze, der Charakter selbst, kann völlig aufgehoben werden, durch die oben angegebene Veränderung der Erkenntniß.“

einführende Literatur zu Schopenhauers Aufassung über Freiheit:

Dieter Birnbacher, Schopenhauer. Originalausgabe. Stuttgart : Reclam, 2009 (Reclams Universal-Bibliothek ; Nr. 20327 : Grundwissen Philosophie), S. 72 - 85

Dieter Birnbacher, 4. Die beiden Grundprobleme der Ethik 4. 1 «Preisschrift über die freiheit des willens). In: Daniel Schubbe/Matthias Koßler (Hrsg.), Schopenhauer-Handbuch : Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2014, S. 101 – 108

Margot Fleischer, Schopenhauer. Originalausgabe. Herder : Freiburg im Breisgau ; Basel ; Wien, 2001 (Herder-Spektrum ; Band 4931), S. 145 – 152

Margot Fleischer, Schopenhauer als Kritiker der Kantischen Ethik : eine kritische Dokumentation. Würzburg : Königshausen & Neumann, 2003, S. 37 – 46 (Verantwortlichkeit und intelligibler Charakter – Schopenhauers Unternehmung, für sein System Freiheit (mit Kant?) zu retten)

Volker Spierling: Arthur Schopenhauer zur Einführung. 4., korrigierte Auflage. Junius : Hamburgm 2015 (Zur Einführung ; 267), S. 101 - 107

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