Hatte das Lateinische nun einen tonalen (melodischen) oder dynamischen Akzent?
Es gibt zwei Lager welche das Gegenteilige behaupten. Die einen sagen dass das Lateinische einen melodischen Akzent hatte, ähnlich wie das Altgriechische, während die Anderen behaupten es hätte einen dynamischen Akzent gehabt, so wie die modernen romanischen Sprachen oder auch das Deutsche. Was ist am Wahrscheinlichsten? Welche Argumente sind stärker?
Vokalabschwächungen sprechen ja eher für einen dynamischen Akzent während eine quantitierende Metrik eher auf einen Tonhöhenakzent hindeutet. Was ich bemerkenswert finde ist die Behauptung dass die Römer krampfhaft versucht hätten die griechische Metrik auf das Latein zu übertragen obwohl es dafür nicht geeignet gewesen sei. Allerdings halte ich das aus zweierlei Gründen für unplausibel:
- Hätte das keinen Sinn gemacht da es trotzdem nicht funktioniert hätte und sich damit auch nie durchgesetzt hätte. Es gab damit auch keinen wirklichen Grund dafür es zu versuchen.
- Die quantitierende Metrik findet sich nicht nur in der Prosa und Poesie sondern scheinbar auch in der Alltagssprache. Man hat Inschriften und Briefe gefunden welche mit speziellen Symbolen (Apex), welche die Vokallängen kennzeichnen, versehen sind.
Kaiser Augustus schreibt wiederum (laut Sueton) dass sich das Lateinische eher für die politische Sprache eignet während das Griechische eher für die Posesi taugt was eventuell auf große Unterschiede in der Betonung und somit auf einen dynamischen Akzent hindeutet.
2 Antworten
Also ich finde diese Sache ohnehin schwierig zu rekonstruieren, ich bin in diesem Punkt ganz unentschlossen (und offen für beide Möglichkeiten).
"Vokalabschwächungen sprechen ja eher für einen dynamischen Akzent während eine quantitierende Metrik eher auf einen Tonhöhenakzent hindeutet."
Eigentlich sind Tonhöhe und lang/kurz-Differenz zwei verschiedene Dinge (Finnisch kennt zwar keine Tonhöhenunterschiede, wohl aber eine lang/kurz-Differenz, Estnisch schafft es, sogar 3 Längen voneinander zu unterscheiden). Darauf wurde schon hingewiesen.
Bei den Vokalabschwächungen stimme ich im Prinzip zu.
Das hier habe ich gefunden, ich kopiere das mal kommentarlos rein:
"3.3. Melodie
Wort- (a.), Vers- (b.) und Satzmelodie (c.) sind von uns relativ zurückhaltend und ohne festes System gebraucht.
Markus 2000; Wille 1967, 267f.; Zaminer 2000
a. „Der melodische, musikalische oder chromatische Akzent wurde vom 3. Jh. v.Chr. bis zum 1./2. Jh. n.Chr. verwendet.“ (Boldrini 1999, 3f.)
Stroh 1981, 64 und 1990, passim
b. Für den lateinischen Hexameter wissen wir nichts von einer bzw. über die Versmelodie. Vgl. 4.4.2.
c. Es ist davon auszugehen, dass das Lateinische eine Satzmelodie besaß. Wie sie aussah, wissen wir nicht.
Teuber 1984, 539f. (gegen die monotone Rezitationsweise von M. Mangold)
Poiss 2003, 1009: „(…) für die komplexen Probleme der lateinischen Prosodie (Verhältnis von musikalischem zu dynamischem Akzent) steht eine Klärung noch aus.“ (anders als für das Griechische: vgl. Literatur 2.2.1.)
Quellen zu (a.): Quintil. inst. 1,5,22-24; Servius 4,426,7 Keil"
Interessant finde ich das auch deshalb, weil es in Dänemark ein kleines Gebiet gibt, in welchem Dänisch mit melodischem Akzent gesprochen wird, während der überwiegende Teil es mit dynamischem Akzent (genauer gesagt: stød) spricht (dann gibt es eine weitere Differenz: mit oder ohne stød). Solche Dinge können durchaus auch mal wechseln (auch in kleinen Gebieten).
D.h. man muss immer mit zeitlichen und räumlichen Unterschieden rechnen.
Estnisch scheint auch tonale Aspekte zu besitzen. Im Finnischen weiß ich es nicht. Litauisch aber hat definitiv einen tonalen Akzent.
Prinzipiell richtig erscheint mir dass eine quantitierende Metrik nicht zwangsweise für einen melodischen, aber ziemlich stark gegen einen dynamischen Akzent spricht.
Vokalabschwächungen sprechen ja eher für einen dynamischen Akzent
Ehrlich gesagt halte ich das für ein Killerargument. Umgekehrt sehe ich nicht, was Tonhöhenakzent mit quantifizierender Metrik zu tun hat — Saṁskr̥t hatte ja auch Versschemata nach Länge und Kürze (z.B. Śloka, in dem fast die ganze klassische Literatur und die Epen verfaßt sind), obwohl es seine Tonalität schon früh verlor.
Indogermanisch wird wirklich mit einen tonalen Akzent rekonstruiert. Allerdings schreibt Weiss in seiner historischen Grammatik des Lateinischen:
At some time in the prehistory of Latin and Sabellic, the Proto-Indo-European accent system was essentially scrapped. With the loss of this system, the outlines of a common Italic stress system emerge. This system had the following features: 1) stress was fixed on the initial syllable, and 2) stress was phonetically implemented in a way broadly similar to English stress, i.e. greater intensity in the higher frequencies, increased duration of the stressed syllable, and greater distinctiveness of stressed vowel qualities.
Ich frage mich, wo Du die Idee eines tonalen Latein herhast.
P.S.: Modernes Urdū hat auch quantitierende Metren, obwohl es nicht tonal ist.
Dann müßte es am Weg vom Indogermanischen über Italisch zu Latein zweimal zwischen Druck- und Tonhöhenakzent gewechselt haben. Ich sehe noch immer kein Argument, weshalb das so gewesen sein sollte — die angebliche Unschönheit des Metrums ist mir beim Vergil-Übersetzen nie aufgefallen. Da wir Latein im allgemeinen nicht mit authentischen Vokallängen lesen (Deutschsprachige können nur mit Mühe Vokallänge von Betonung trennen), ist das ästhetische Argument sowieso nicht ganz erst zu nehmen.
Saṁskr̥t wechselte zwischen der vedischen und der klassischen Epoche, also etwa in des Mitte des ersten Jahrtausends v.Chr. Ich kenne mich in der Literatur nicht aus, aber Ādi Śaṅkara schrieb noch im 8/9. Jhd. n.Chr. in Versen mit quantitierendem Metrum (Śārdūlavikrīḍita).
Die Initialbetonung des frühen Latein ist gesichert — sie ist der Grund für Vokalschwächung in Worten wie cápio → íncipio, wo die klassisch betonte zweite Silbe von der Schwächung betroffen ist. Der Übergang zur klassischen Betonung wird im 3. Jahrhundert verortet, also knapp vor den ersten erhaltenen literarischen Werken. Leider habe ich Plautus nie gelesen, aber angeblich sind da noch Spuren davon zu sehen.
Inzwischen habe ich eine Fußnote bei Weiss gefunden, die auf die angebliche Tonalität eingeht. Er schreibt:
Various Latin grammarians describe the Latin stress system in terms of pitch, e.g. Var. apud Serg. (Keil 4.525) altitudinem (emended from ab altitudine) discernit accentus, cum pars verbi aut in grave deprimitur aut sublimatur in acutum ‘Accent distinguishes height, when a part of a word is either lowered into a grave accent or raised into an acute.’ Some even go so far as to introduce a distinction between acute and circumflex intonation on penultimate syllables governed by the quantity of the final syllable. Thus according to Priscian (Keil 2.7) hãmus ‘hook’ but hámīs ‘hooks’ dat. abl. pl. Some scholars have found this description credible at least for the Classical period, e.g. Boldrini 1999:3 to cite a recent example. But most regard the grammarians’ statements as a slavish copying of the Greek system. See Allen 1978:84 and further Lepsky 1962. It is possible, however, that the grammarians could have been describing something real. ln Present-day English, the stressed syllable of a word said in isolation is also provided with a tone or tonal contour, and this feature is one of the most robust cues for the hearer to locate the stressed syllable. See Gussenhoven 2004:17.
Das erscheint mir auch eine Möglichkeit: ln Present-day English, the stressed syllable of a word said in isolation is also provided with a tone or tonal contour, and this feature is one of the most robust cues for the hearer to locate the stressed syllable.
Das Italienische kennt ja auch je nach Dialekt stärkere Melodik trotz Druckakzent.
Auch das Schweizerdeutsche sowie vermutlich auch das Mittelhochdeutsche.
Urdu scheint aber auch keinen Druckakzent zu haben. Demnach muss das Lateinische auch zumindest keinen Druckakzent gehabt haben. Vielleicht war es auch eine fast akzentfreie Sprache wie das Französische?
Urdū habe ich kaum je gehört, aber Hindī, und das sollte ja keinen Unterschied machen. Der Akzent in Hindī klingt wie im Deutschen, und Wikipedia spricht auch von Druckakzent.
Ich habe sogar eine Studie gefunden in welcher dem Urdu ein tonaler Akzent attestiert wird. Dieser ist im Vergleich zu anderen tonalen Sprachen in Asien eher schwach ausgeprägt. Aber immerhin vorhanden.
Die Vokalabschwächungen können auch aus der Zeit Altlateins stammen als es noch einen Druckakzent hatte. Eine quantitierende Metrik ist für Sprachen mit Druckakzent eher unschön da es einfach nicht gut klingt. Das ist zwar kein Totschlagargument, aber ein Indiz.
Warum früh? So weit ich das nachlesen kann verlor das Sanskrit seinen Tonakzent erst später.
Warum sollte das Lateinische eine Anfangsbetonung haben? Laut Weiss muss das ja so gewesen sein. Aber das scheint nicht der Fall gewesen zu sein.
Die Idee habe ich nicht irgendwo her sondern sie ist Teil einer Jahrzehnte alten Debatte da es nicht gelungen ist diese Frage eindeutig zu klären. Ich frage mich halt nach welchem Kriterium das am realistischsten bemessen wird und wie Latein mit Tonakzent geklungen haben soll? Alleine schon die Silbenlängen sind für mich schwer einigermaßen wohlklingend zu realisieren.