Hatte das Lateinische nun einen tonalen (melodischen) oder dynamischen Akzent?

2 Antworten

Also ich finde diese Sache ohnehin schwierig zu rekonstruieren, ich bin in diesem Punkt ganz unentschlossen (und offen für beide Möglichkeiten).

"Vokalabschwächungen sprechen ja eher für einen dynamischen Akzent während eine quantitierende Metrik eher auf einen Tonhöhenakzent hindeutet."

Eigentlich sind Tonhöhe und lang/kurz-Differenz zwei verschiedene Dinge (Finnisch kennt zwar keine Tonhöhenunterschiede, wohl aber eine lang/kurz-Differenz, Estnisch schafft es, sogar 3 Längen voneinander zu unterscheiden). Darauf wurde schon hingewiesen.

Bei den Vokalabschwächungen stimme ich im Prinzip zu.

Das hier habe ich gefunden, ich kopiere das mal kommentarlos rein:

"3.3. Melodie

Wort- (a.), Vers- (b.) und Satzmelodie (c.) sind von uns relativ zurückhaltend und ohne festes System gebraucht.

Markus 2000; Wille 1967, 267f.; Zaminer 2000

a. „Der melodische, musikalische oder chromatische Akzent wurde vom 3. Jh. v.Chr. bis zum 1./2. Jh. n.Chr. verwendet.“ (Boldrini 1999, 3f.)

Stroh 1981, 64 und 1990, passim

b. Für den lateinischen Hexameter wissen wir nichts von einer bzw. über die Versmelodie. Vgl. 4.4.2.

c. Es ist davon auszugehen, dass das Lateinische eine Satzmelodie besaß. Wie sie aussah, wissen wir nicht.

Teuber 1984, 539f. (gegen die monotone Rezitationsweise von M. Mangold)

Poiss 2003, 1009: „(…) für die komplexen Probleme der lateinischen Prosodie (Verhältnis von musikalischem zu dynamischem Akzent) steht eine Klärung noch aus.“ (anders als für das Griechische: vgl. Literatur 2.2.1.)

Quellen zu (a.): Quintil. inst. 1,5,22-24; Servius 4,426,7 Keil"

http://www.telemachos.hu-berlin.de/materialien/ovidprojekt/prosodie_und_metrik/regeln.htm#3.3.%20Melodie

Interessant finde ich das auch deshalb, weil es in Dänemark ein kleines Gebiet gibt, in welchem Dänisch mit melodischem Akzent gesprochen wird, während der überwiegende Teil es mit dynamischem Akzent (genauer gesagt: stød) spricht (dann gibt es eine weitere Differenz: mit oder ohne stød). Solche Dinge können durchaus auch mal wechseln (auch in kleinen Gebieten).

D.h. man muss immer mit zeitlichen und räumlichen Unterschieden rechnen.


Aron5 
Beitragsersteller
 11.09.2023, 12:16

Estnisch scheint auch tonale Aspekte zu besitzen. Im Finnischen weiß ich es nicht. Litauisch aber hat definitiv einen tonalen Akzent.

Prinzipiell richtig erscheint mir dass eine quantitierende Metrik nicht zwangsweise für einen melodischen, aber ziemlich stark gegen einen dynamischen Akzent spricht.

Von Experte OlliBjoern bestätigt
Vokalabschwächungen sprechen ja eher für einen dynamischen Akzent

Ehrlich gesagt halte ich das für ein Killerargument. Umgekehrt sehe ich nicht, was Tonhöhenakzent mit quantifizierender Metrik zu tun hat — Saṁskr̥t hatte ja auch Versschemata nach Länge und Kürze (z.B. Śloka, in dem fast die ganze klassische Literatur und die Epen verfaßt sind), obwohl es seine Tonalität schon früh verlor.

Indogermanisch wird wirklich mit einen tonalen Akzent rekonstruiert. Allerdings schreibt Weiss in seiner historischen Grammatik des Lateinischen:

At some time in the prehistory of Latin and Sabellic, the Proto-Indo-European ac­cent sys­tem was essentially scrapped. With the loss of this system, the outlines of a com­­mon Italic stress system emerge. This system had the following features: 1) stress was fixed on the initial syllable, and 2) stress was phonetically implemented in a way broadly similar to English stress, i.e. greater intensity in the higher fre­quen­cies, in­­creased duration of the stressed syllable, and greater distinctiveness of stres­sed vowel qualities.

Ich frage mich, wo Du die Idee eines tonalen Latein herhast.

P.S.: Modernes Urdū hat auch quantitierende Metren, obwohl es nicht tonal ist.

Woher ich das weiß:Hobby – Angelesenes Wissen über Sprach­geschich­te und Grammatik

Aron5 
Beitragsersteller
 10.09.2023, 22:07

Die Vokalabschwächungen können auch aus der Zeit Altlateins stammen als es noch einen Druckakzent hatte. Eine quantitierende Metrik ist für Sprachen mit Druckakzent eher unschön da es einfach nicht gut klingt. Das ist zwar kein Totschlagargument, aber ein Indiz.

Warum früh? So weit ich das nachlesen kann verlor das Sanskrit seinen Tonakzent erst später.

Warum sollte das Lateinische eine Anfangsbetonung haben? Laut Weiss muss das ja so gewesen sein. Aber das scheint nicht der Fall gewesen zu sein.

Die Idee habe ich nicht irgendwo her sondern sie ist Teil einer Jahrzehnte alten Debatte da es nicht gelungen ist diese Frage eindeutig zu klären. Ich frage mich halt nach welchem Kriterium das am realistischsten bemessen wird und wie Latein mit Tonakzent geklungen haben soll? Alleine schon die Silbenlängen sind für mich schwer einigermaßen wohlklingend zu realisieren.

indiachinacook  10.09.2023, 22:50
@Aron5

Dann müßte es am Weg vom Indogermanischen über Italisch zu Latein zweimal zwischen Druck- und Tonhöhenakzent gewechselt haben. Ich sehe noch immer kein Argu­ment, weshalb das so gewesen sein sollte — die angebliche Unschönheit des Metrums ist mir beim Vergil-Übersetzen nie aufgefallen. Da wir Latein im all­ge­mei­nen nicht mit authen­ti­schen Vo­kal­län­gen lesen (Deutsch­sprachige können nur mit Mühe Vo­kal­län­ge von Be­to­nung tren­nen), ist das ästhe­ti­sche Ar­gu­ment so­wie­so nicht ganz erst zu nehmen.

Saṁskr̥t wechselte zwischen der vedischen und der klassischen Epoche, also etwa in des Mitte des ersten Jahrtausends v.Chr. Ich kenne mich in der Literatur nicht aus, aber Ādi Śaṅkara schrieb noch im 8/9. Jhd. n.Chr. in Versen mit quanti­tie­ren­dem Metrum (Śārdūlavikrīḍita).

Die Initialbetonung des frühen Latein ist gesichert — sie ist der Grund für Vokal­schwä­chung in Wor­ten wie cápio → íncipio, wo die klassisch betonte zweite Silbe von der Schwä­chung betroffen ist. Der Übergang zur klassischen Betonung wird im 3. Jahr­hun­dert ver­­ortet, also knapp vor den ersten erhaltenen literarischen Wer­ken. Lei­der habe ich Plautus nie ge­lesen, aber angeblich sind da noch Spuren da­von zu sehen.

Inzwischen habe ich eine Fußnote bei Weiss gefunden, die auf die angebliche Tonalität eingeht. Er schreibt:

Various Latin grammarians describe the Latin stress system in terms of pitch, e.g. Var. apud Serg. (Keil 4.525) altitudinem (emended from ab altitudine) discernit accentus, cum pars verbi aut in grave deprimitur aut sublimatur in acutum ‘Accent distinguishes height, when a part of a word is either lowered into a grave accent or raised into an acute.’ Some even go so far as to introduce a distinction between acute and circumflex intonation on penultimate syllables governed by the quantity of the final syllable. Thus according to Priscian (Keil 2.7) hãmus ‘hook’ but hámīs ‘hooks’ dat. abl. pl. Some scholars have found this description credible at least for the Classical period, e.g. Boldrini 1999:3 to cite a recent example. But most regard the grammarians’ statements as a slavish copying of the Greek system. See Allen 1978:84 and further Lepsky 1962. It is possible, however, that the grammarians could have been describing something real. ln Present-day English, the stressed syllable of a word said in isolation is also provided with a tone or tonal contour, and this feature is one of the most robust cues for the hearer to locate the stressed syllable. See Gussenhoven 2004:17.

Aron5 
Beitragsersteller
 11.09.2023, 12:19
@indiachinacook

Das erscheint mir auch eine Möglichkeit: ln Present-day English, the stressed syllable of a word said in isolation is also provided with a tone or tonal contour, and this feature is one of the most robust cues for the hearer to locate the stressed syllable.
Das Italienische kennt ja auch je nach Dialekt stärkere Melodik trotz Druckakzent.

Auch das Schweizerdeutsche sowie vermutlich auch das Mittelhochdeutsche.

Aron5 
Beitragsersteller
 10.09.2023, 22:13

Urdu scheint aber auch keinen Druckakzent zu haben. Demnach muss das Lateinische auch zumindest keinen Druckakzent gehabt haben. Vielleicht war es auch eine fast akzentfreie Sprache wie das Französische?

indiachinacook  11.09.2023, 01:15
@Aron5

Urdū habe ich kaum je gehört, aber Hindī, und das sollte ja keinen Unterschied machen. Der Akzent in Hindī klingt wie im Deutschen, und Wikipedia spricht auch von Druckakzent.

Aron5 
Beitragsersteller
 11.09.2023, 12:11
@indiachinacook

Ich habe sogar eine Studie gefunden in welcher dem Urdu ein tonaler Akzent attestiert wird. Dieser ist im Vergleich zu anderen tonalen Sprachen in Asien eher schwach ausgeprägt. Aber immerhin vorhanden.