Gedichtinterpretation?

2 Antworten

Die Form richtet sich doch nicht nur nach der Gestalt, sondern auch nach dem (geistigen) Inhalt:

Ist es wegen der gewählten Worte leicht sangbar, ist es eben ein einfaches Lied, ist die Sprache und der Inhalt poetisch, ist es eine Ode, wird darin irgendetwas bzw. irgendwer verherrlicht, ist es eine Hymne. Prosaisch weitschweifend ist eine Ballade. Kurz und knapp mit bestimmten Versschema das Epigramm.

Was ist daran so schwierig? Du musst es nur begründen und belegen können.

Und nun zu deinem Beispiel:

  • die Sprache ist einfach
  • das Versmaß nicht; es holpert "wild" beim Aufsagen
  • der Reim ist wegen Enjambements nicht sehr hörbar, also
  • ist der Reim nur gestaltgebend, - nach dem dümmlichen Motto "Was sich reimt, muss Lyrik sein" -, aber für den Klang unsinnig
  • der Inhalt ist nicht so leicht - es wird eine "Zufluchtsstätte" beschrieben: Vor wem? Der Ort der Handlung liegt am Meer: Ruder, Strohdach, Sund, Fähren...
  • Es ist der mögliche Sturm, der Angst macht: Was ist der Sturm? > Erhoffte Briefe werden nicht gebracht...Die Fähren könnten mit Feinden kommen... Man könnte aus dem Haus fliehen...
  • Das Gedicht ist 1937 verfasst. Brecht war an der dänischen Küste in einer Behausung auf der Flucht vor den Nazis. "Der Stürmer" hieß die Nazizeitung. Und wer stürmte da?

Und natürlich ist das eine moderne Ballade (vom Erneuerer der Ballade > B. Brecht):

Die mörderische Verfolgung des lyrischen Ichs (B. Brechts persönlich) wird als Naturgewalt dargestellt, kein mittlerer Wind mehr, sondern als ein möglicher Sturm, vor dem es wieder zu fliehen gilt.

Und natürlich ist die Sprache um 1937 nicht mehr romantisch poetisch, sondern damals modern sachlich, aber dennoch metaphorisch.

PS: Meine Erfahrung einst am Gymnasium war auch, dass ich mehr ignorante Deutschlehrer*innen hatte als der Literatur, Philosophie, Geschichte und Politik kundige! Schauerlich! Ich musste bei jeder schriftlichen Arbeit fachlich und sachlich streiten, immerhin war das eine gute Übung für mein UNI-Studium.

Viel Kraft, Mut und Erkennen der Literatur - und wenig Verständnis für so manche rätselhaft gebildete Lehrkräfte!

PatrickBatemanx 
Fragesteller
 24.04.2022, 18:35

Vielen Dank für deine ausführliche Antwort!

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PatrickBatemanx 
Fragesteller
 24.04.2022, 18:42

Eine Frage hätte ich aber noch.

Prosaisch weitschweifend ist eine  Ballade.

Ich habe immer gedacht, dass bei einem prosaischen Gedicht, überhaupt keine Reime vorkommen. In diesem Beispiel kommen zwar Reime vor, sind aber nicht ganz ersichtlich durch den Einsatz von Enjambements.

Kann man dann trotzdem etwa von prosarisch weitschweifend reden?
Ich dachte, dass sowas immer nur im Prosa sein kann.

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Skoph  25.04.2022, 09:01
@PatrickBatemanx

Weißt du, es ergaben sich eben literaturhistorisch feste Formen - um sie als Dichter individuell zu nutzen und möglichst genial zu durchbrechen:

Man beginnt eben seine Idee mit der ersten Zeile oder den ersten beiden und erhält deren beiden Endworte. Dann denkt man sich, ob andere sich dazu reimende Worte zum Inhalt seines Gedichts passen würden. Dafür gibt es das Reimlexikon, z. B. im Reclam Verlag. Passen welche, verwendet man sie und kreiert neue Zeilen mit ihnen. Dann bemerkt man eben, dass die Zeile als ein Satz zu wenig Aussagekraft für den Sinn gäbe, den man erzielen will. Hier flieht Brecht ja nicht, also keine kurzen hastig wirkenden Sätze. Er ist ja in seinem Versteck, könnte aber fliehen. Also durchbricht er mit den Rhythmus mit einem holprigen Versmaß und das Ende der Zeile durch Enjambements. Erführt die Sätze weiter, das wirkt deshalb auf mich prosaisch weitschweifend. Darüber kann aber streiten! Soll man ja.

Dann sind die beiden Strophen relativ sachlich geschrieben: Es fehlen also "prosaisch weitschweifende" Strophen der typischen Ballade. Aber das ist eben das Neue an Brechts Balladen. In seiner Nazizeit des bewussten Menschenhasses gab es eben nichts romantisch Idyllisches. Das würde in einem Gedicht jener Zeit wie schwachsinnig, irrsinnig wirken, würde die latente Angst vor dem entdeckt werden ja nicht widerspiegeln.

Weil das aber Brecht genial darstellen konnte, lesen wir seine Balladen noch heute - nicht mehr tausende andere geschriebene, die nicht rundum gelungen sind.

Schreibe also, was du beim Lesen fühlst und denkst, auch das Paradoxe, das unlösbar Konfliktreiche, das scheinbar und das wirklich Banale, aber begründe es so gut, so detailliert, so haargenau wie nur möglich. Nur dann ist es niemals falsch, sondern von dir persönlich authentisch und grundsätzlich beachtenswert - auch wenn man in der Schule meist an Textinterpretationen der Fachleute mit aufgezählten Stichpunkten gebunden wird, um messbare Vergleichsnoten erschaffen zu können. Schule eben! Nicht individuelles Nachdenken! Trotzdem viel Erfolg!

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Heyyy,

Also wir haben die Gedichtsform nur bestimmt, wenn etwas deutlich zu erkennen war, wie ein Sonnet zum Beispiel. Also hier würde ich das nicht bestimmen, also nur "Gedicht" reicht.

Aber ich weiß nicht wie es bei euch verlangt ist, sonst frag dein Lehrer lieber nochmal