Gedichtanalyse eigentlich kontraproduktiv?

3 Antworten

schön, dass du diese Frage aus der Perspektive derer betrachtet hast, die wirklich selbst. Das tut nämlich kaum ein Deutschlehrer und darum denkt er auch nicht an so etwas. Ich fürchte manchmal, auch die Macher von Deutsch Büchern schreiben selbst kaum etwas und darum produzieren sie Buchseiten mit Fragen zu Texten, auf die man selbst nie gekommen wäre.

Die Sache ist eigentlich ganz einfach. Allerdings muss man sie auf verschiedenen Ebenen betrachten. Ich habe mich mal mit Lars Krüsand und Anders Tivag unterhalten. Die gehören zu den Deutschlehrerin, die ständig selbst Texte schreiben und die unter ihren Pseudonymen dann auch ihren Schülern geben. Die behandeln diese Texte dann wie alle anderen Texte auch, versuchen aber in dieser Doppelrolle von Lehrer und Autor zu vermitteln.

ich habe mir damals ein paar Notizen gemacht und versuche mal, dass hier einigermaßen richtig wiederzugeben:

was die beiden mir erklärt haben, ist ungefähr folgendes:

Zunächst einmal hast du völlig recht. Kein normaler Dichter schreibt wie ein Deutschlehrer. Und wenn ein Deutschlehrer dichtet, sollte er vergessen, dass er Deutschlehrer ist, wenn er das denn kann. Aber das gilt ja auch für einen Psychologieprofessor, wenn der sich verliebt, darf er auch nicht mehr an seinen Beruf denken.
Das zweite ist dann aber, dass ein Gedicht ja in der Regel nicht in der Schublade bleibt, und dann kommt eben der Leser ins Spiel. Und da gilt der Grundsatz: Kunst entsteht im Auge des Betrachters. Dann kann man als normaler Leser ein Gedicht genießen (und das ist auch eine Form der Analyse) und auf sein Leben anwenden (das ist interpretieren), wie man will.

Wenn man ein Gedicht in der Schule behandelt, bringt es nichts, wenn jeder nur seine ganz individuelle Sicht Auf das Gedicht präsentiert. Da kommt es auf Verständigung an. D.h. dann: man tauscht sich aus, über das, was man meint verstanden zu haben. Und im Idealfall würde jeder dabei klüger, indem er auch etwas vom anderen übernimmt.

und jetzt kommen wir zur Problemzone: die taucht immer dann auf, wenn der deutsch Unterricht diese letzte Ebene verlässt und anfängt Literatur Wissenschaft zu betreiben. Zu Der gehört nämlich das, was du beschrieben hast und was die meisten Schüler hassen oder zumindest nicht verstehen.

allerdings muss man auch fair bleiben: viele Ergebnisse der Literaturwissenschaft könnten auch den eigenen Horizont erweitern. Man versteht dann mehr, als wenn man nicht mit den Augen von Fachleuten auf Literatur geblickt hätte. Das gleiche gilt doch für andere Kunstwerke. Die Leute, die ins Museum gehen, freuen sich, wenn da jemand nicht nur seine Gefühle präsentiert, sondern Ihnen auch vieles zeigt, worauf sie selbst nicht gekommen wären.

die beiden Deutschlehrer, die ich oben erwähnt habe, haben genau das bestätigt. Denn als Autoren sind sie gar nicht in allen Bereichen fit. Und bei manchen Gedichten besonders, braucht man auch Hilfen der Wissenschaft, sonst sind sie kaum zu verstehen.

wichtig ist nur, dass man in der Schule immer unterscheidet zwischen dem, worauf man selbst kommen kann, und dem, wo man eben die Hilfe von Fachleuten braucht und auch gerne verwendet.

ansonsten sollte man die Hälfte der Zeit des Umgangs mit Literatur in der Schule nicht auf diese spezielle germanistische Behandlung der Texte verwenden, sondern auf Kritik und Kreativität. Dichte müssen nämlich damit leben, sonst brauchen sie nicht an die Öffentlichkeit zu gehen ;-)

Der große Dichter Bert Brecht schreibt darüber:

Der Laie hat für gewöhnlich, sofern er ein Liebhaber von Gedichten ist, einen lebhaften Widerwillen gegen das, was man das Zerpflücken von Gedichten nennt, ein Heranführen kalter Logik, Herausreißen von Wörtern und Bildern aus diesen zarten blütenhaften Gebilden. Demgegenüber muß gesagt werden, daß nicht einmal Blumen verwelken, wenn man in sie hineinsticht. Gedichte sind, wenn sie überhaupt lebensfähig sind, ganz besonders lebensfähig und können die eingreifendsten Operationen überstehen. Ein schlechter Vers zerstört ein Gedicht noch keineswegs ganz und gar, so wie ein guter es noch nicht rettet. Das Herausspüren schlechter Verse ist die Kehrseite einer Fähigkeit, ohne die von wirklicher Genußfähigkeit an Gedichten überhaupt nicht gesprochen werden kann, nämlich der Fähigkeit, gute Verse herauszuspüren. Ein Gedicht verschlingt manchmal sehr wenig Arbeit und verträgt manchmal sehr viel. Der Laie vergißt, wenn er Gedichte für unnahbar hält, daß der Lyriker zwar mit ihm jene leichten Stimmungen, die er haben kann, teilen mag, daß aber ihre Formulierung in einem Gedicht ein Arbeitsvorgang ist und das Gedicht eben etwas zum Verweilen gebrachtes Flüchtiges ist, also etwas verhältnismäßig Massives, Materielles. Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses. Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön.

Ich denke, dass man ein Gedicht zuerst so lesen sollte, wie es der Autor aufgeschrieben hat.

Vermutlich sogar mehrmals.

Vielleicht an mehrere Tagen.

Es zu analysieren hilft dann, wenn man es wirklich verstehen will, also nicht nur fühlen, sondern nachvollziehen, wie es funktioniert.

Ähnlich wie ein Komponist seine Musik auf Basis von Regeln und Sytematik aufbaut, der Hörer sie aber intuitiv rezipiert, kann das auch bei einem Dichter der Fall sein: Es gibt auch in der Lyrik Systematiken, die der Dichter anwenden oder im Zweifelsfall sogar absichtlich missachten kann, und zu denen er ganz eigene Zutaten hinzufügen kann.

Die Mischung macht das Gedicht, und man kann da durchaus was rausinterpretieren.

Aber man kann es auch einfach nur lesen.

Auch für meinen Geschmack ging der Deutschunterricht zu schnell zur Dekonstruktionsphase über.