Fachbegriff der griechischen Philosophie "Meeresruhe"?

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Der gesuchte griechische Begriff für Meeresruhe ist γαλήνη (galene). Das Wort bedeutet „Stille“, „Windstille“, Meeresstille“. In philosophischen Aussagen ist damit oft in übertragener Bedeutung einen stille, ruhige Heiterkeit gemeint. Wie bei einer glatten Meeresoberfläche ist die Seele nicht von Qualen und zerrüttenden Leidenschaften aufgewühlt.

Ein Oberbegriff in der philosophischen Ethik ist Seelenruhe. Sie wird mit Glück/Glückseligkeit (griechisch: εὐδαιμονία [eudaimonia]), das heißt einem guten Leben des Wohlbefindens und Wohlergehens, in Verbindung gebracht.

In der Ethik hat der Begriff γαλήνη (galene) eine besonders starke Bedeutung bei der philosophischen Richtung der pyrrhonischen Skepsis, begründet von Pyrrhon aus Elis und fortgeführt von seinem Schüler Timon aus Phleious (griechisch: Φλειοῦς; lateinisch: Phleius).

Metaphorisch verwenden den Ausdruck schon die Dichter Aischylos, Agamemnon 737 – 742 und Sophokles, Elektra 899 – 901.

Der Philosoph Demokrit(os) hat als Ziel (τέλος) Wohlgemutheit (εὐθυμία) angegeben und diese unter anderem als einen Zustand beschrieben, den die Seele in der Weise einer Meeresstille (Adverb γαληνῶς) verbringt (Diogenes Laertios 9, 45).

Platon, Phaidon 84 a - b erklärt Sokrates, eine philosophische Seele verschaffe sich Ruhe ( γαλήνη).

Platon, Sämtliche Werke : Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag; Artemis-Paperbackausgabe in acht Bänden. Eingeleitet von Olof Gigon. Übertragen von Rudolf Rufener Band 3: Meisterdialoge : Phaidon. Symposion. Phaidros. Zürich ; München : Artemis-Verlag, 1974, S. 48:

„Nein; denn diese Überlegungen etwa wird sich die Seele eines philosophischen Mannes machen. Und sie wird auch nicht glauben, die Philosophie müsse sie erst befreien, doch sie könne sich dann, wenn sie befreit ist, aufs neue den Freuden und Leiden hingeben und sich wiederum von ihnen binden lassen und so ein unvollendbares Werk tun, indem sie sozusagen ein Penelopegewebe in umgekehrter Weise anfertigen würde. Im Gegenteil: sie verschafft sich Ruhe vor alledem, sie nimmt Überlegung zum Führer und hält sich immer an ihn, sie schaut auf das, was wahr und göttlich und über alles bloße Meinen erhaben ist, und nährt sich davon. Sie ist der Überzeugung, daß sie auf diese Weise leben muß, solange sie lebt, und daß sie nach ihrem Tode zu dem kommen wird, das ihrem Wesen verwandt und ähnlich ist, und dann von den menschlichen Übeln befreit ist.“

Platon, Symposion 197 c schildert der Dichter Agathon in einer Lobrede auf den Gott Eros das Hervorbringen von Frieden (εἰρήνη), Meeresstille (γαλήνη), Windstille (vηνεμία) und Schlaf (ὕπνος).

Platon, Sämtliche Werke : Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag; Artemis-Paperbackausgabe in acht Bänden. Eingeleitet von Olof Gigon. Übertragen von Rudolf Rufener Band 3: Meisterdialoge : Phaidon. Symposion. Phaidros. Zürich ; München : Artemis-Verlag, 1974, S. 141:

„Es kommt mich aber an, in Versen zu sagen: er sei es, der da bewirkt

Frieden unter den Menschen, dem Meere ruhige Glätte

Stille vom Sturm und ruhigen Schlaf dem sorgenden Herzen.“

Platon, Theaitetos 153 b - c vertreten Theaitetos und Sokrates die Auffassung, der Zustand des Leibes und der Seele weder durch Ruhe, Trägheit und Gedankenlosigkeit zerrüttet, gut sei dagegen Bewegung (wozu Lernen und Fleiß gehören), bei Windstillen und Ähnlichem bewirke Ruhe Fäulnis und Zerstörung, das Gegenteil aber Erhaltung.

Platon, Nomoi 791 a erklärt der Athener, einen Bewegung von außen könne Stille (γαλήνη) und Ruhe (ἡσυχία) in die Seele bringen.

Platon, Nomoi (Gesetze) : Übersetzung und Kommentar von Klaus Schöpsdau. Buch IV – VII. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 2003 (Platon, Werke : Übersetzung und Kommentar. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz herausgegeben von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller. IX 2), S. 92:

„Wendet man nun bei solchen Zuständen von außen eine Erschütterung an, so überwältigt die von außen herangebrachte Bewegung die innere Bewegung der Furcht und der Raserei, und wenn sie nach dieser Überwältigung in der Seele Stille und Ruhe von dem jeweils auftretenden heftigen Herzklopfen einkehren läßt, bringt sie etwas sehr Erwünschtes hervor: die einen läßt sie Schlaf finden, bei den andern bewirkt sie nach ihrem Aufwachen durch Tanz und Flötenspiel mit Hilfe der Götter, denen sie jeweils unter günstigen Vorzeichen opfern, daß sie statt ihrer Wahnsinnszustände wieder eine vernünftige Haltung annehmen.“

Aristippos aus Kyrene hat behauptet, es seien in Bezug auf die Stimmung drei Zustände zu unterscheiden, einer, beim dem Schmerz empfunden wird, dem Sturm vergleichbar, einer, bei dem Lust empfunden wird, der sanften Woge des Meeres ähnlich und mit günstigem Fahrtwind vergleichbar, und ein mittlerer Zustand, bei dem weder Schmerz noch Lust empfunden wird, der Meeresstille ähnlich (Eusebios/Eusebius von Kaisareia/Caesarea, Euangelike proparaskeue [Εὐαγγελικὴ προπαρασκευή; Vorbereitung auf das Evengelium; lateinischer Titel: Praeparatio evangelica] 14, 18, 32).

Aristippos nannte als Ziel (τέλος) die sanfte (glatte), sich zur Empfndung steigernde Bewegung (Diogenes Laertios 2, 85).

Die Kyrenaïker, eine von Aristippos begründete philosophische Richtung, verstanden Lust als sanfte (glatte) Bewegung, Mühe/Leiden als rauhe (ungestüme) Bewegung, wobei sich die eine Lust von der anderen Lust qualitativ nicht unterscheide, also nicht angenehmer sei (Diogenes Laertios 2, 86 – 87).

Die Epikureer erklärten einen mit Dauer verbundenen Zustand, die Seelenruhe (griechisch: ἀταραξία [ataraxia]; „Unerschütterlichkeit“; ein Zustand heiterer Gelassenheit) und die körperliche Schmerzlosigkeit (griechisch: ἀπονία [aponia]) für die Vollendung des glückseligen Lebens. In diesem heilen, angenehmen Zustand besteht kein Mangel, da keine unbefriedigten Wünsche vorhanden sind. Die Seelenruhe beschreibt Epikur (griechisch: Ἐπίκουρος [Epikouros]) als Zustand, in dem sich die Wogen glätten und der Sturm legt (Brief an Menoikeus, Diogenes Laertios 10, 128).

Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. In der Übersetzung von Otto Apelt. Unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl neu herausgegeben sowie mit Vorwort, Einleitung und neuen Anmerkungen zu Text und Übersetzung versehen von Klaus Reich. 3. Auflage. Mit neuem Vorwort von Hans Günter Zekl. Hamburg : Meiner, 1990 (Philosophische Bibliothek , Band 53/54), S. 282 – 283:

„Haben wir es einmal dahin gebracht, dann glätten sich die Wogen; es legt sich jeder Seelensturm, denn der Mensch braucht sich dann nicht mehr umzusehen nach dem, was ihm noch mangelt, braucht nicht mehr zu suchen nach etwas anderem, das dem Wohlbefinden seiner Seele und seines Körpers zur Vollendung verhilft.“

Für die Stoiker war Leidenschaftslosigkeit (griechisch: ἀπάθεια [apatheia] wichtig. Lucius Annaeus Senca, De tranqullitate animi ist ein Werk über Seelenruhe (lateinisch: tranquillitas animi). Epiktet(os), Diatribai (Διατριβαί; Lehrgespräche/Diatriben; lateinischer Titel: Dissertationes) 2, 18, 30 beschreibt einen angestrebten Zustand als Meeresstille (γαλήνη) und Windstille/Heiterkeit/Ruhe (εὐδία).

Epiktet. Teles. Musonius, Ausgewählte Schriften : griechisch/deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel. München ; Zürich : Artemis & Winkler, 1994 (Sammlung Tusculum), S. 159:

„Du brauchst ja bloß die Furcht vor dem Tod zu überwinden und dann laß es donnern und blitzen, wie es will, und du wirst erkennen, welche Stille und Heiterkeit in deiner Seele, dem leitenden Prinzip in dir, herrschen.“

Katja Maria Vogt, galênê. In: Wörterbuch der antiken Philosophie. Herausgegeben von Christoph Horn und Christof Rapp. Originalausgabe. München : Beck, 2002 (Beck'sche Reihe ; 1483), S. 166:

„galênê ( Stille, Windstille ).

1. Timon von Phleius prägt im Anschluss an seinen Lehrer und Gründer der pyrrhonischen Skepsis (→ skepsis), Pyrrhon von Elis, das Bild der Windstille über dem Meer. Das glatte, unbewegte Meer steht für die Abwesenheit von Unruhe und Verwirrung in der Seele, d . h . für die Seelenruhe (→ ataraxia). Wer im Besitz der Seelenruhe (atarachôs) lebt, so Timon, lebt in Ruhe (hêsychia) und Stille (galênê) (Sext. Emp. Adv. math. 11, 141). In Ergänzung zu dem Begriff der galênê verwendet Timon einen weiteren Ausdruck, der den Stillstand des Windes bezeichnet: nênemiê (ebd.). Was in der frühen pyrrhonischen Skepsis unter dem Ideal der Seelenruhe verstanden wird, zeigt sich in Timons lobenden Beschreibungen seines Lehrers : Pyrrhon war unangefochten von Emotionen (→ pathê) und Meinungen (→ doxai) ( Aristocles, Eusebius 14. 18. 19; Timon frg.783 Caizzi 58); er machte sich keine Gedanken (aphrontistôs) und war unbewegt (akinêtôs) von den ‘Umwälzungen und der süßen Stimme der Weisheit’ (Diog. Laert. 9, 65; Sext. Emp. Adv. Math. 11, 1; Timon frg. 841 Caizzi 61 A – D).“

d . h. = das heißt

Sext. Emp. Adv. Math. = Sextus Empiricus, Pros Mathematikous (Πρὸς Μαθηµατικούς; Gegen die Mathematiker; lateinischer Titel: adversus mathematicos)

ebd. = ebenda

frg. = Fragment

Diog. Laert. = Diogenes Laertios

zur Begriffsgeschichte von Seelenruhe:

Peter Probst/Ulrich Dierse, Seelenruhe. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9: Se–Sp. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1995, Spalte 94 – 105

über Internet, aber ohne Zugang zum Volltext nur der Anfang des Artikels als kleine Vorschau:

https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.seelenruhe%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.seelenruhe%27%5D

bountyeis  27.08.2020, 17:00

Albrecht, lass uns heiraten gggg, deine Antwort ist wieder einmal dermaßen fundiert und klasse, das zieht mir jedesmal die Schuhe aus.

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FranzyYourAngel 
Fragesteller
 20.09.2020, 12:35

Vielen Dank für diese Mega Antwort!!!

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Meinst du womöglich die Stoa (stoisch), bei der die Meeresstille der Seele ein zentraler Begriff ist?

FranzyYourAngel 
Fragesteller
 26.08.2020, 13:01

Danke für Deine Antwort!
Daran habe ich auch schon gedacht, aber es war nicht der Begriff "stoisch".
Begriffe, die ich noch dazu gefunden habe wäre "Apathie" und "Ataraxie", aber da fehlt mir irgendwie der Bezug zum Bild der Meeresstille - da muss es einen Begriff geben, der genau das aussagt :(

Aber vielen Dank nochmal für deine Antwort!
Lg Franzy

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FranzyYourAngel 
Fragesteller
 26.08.2020, 13:07
@FranzyYourAngel

Ich habs gefunden! Falls es dich auch interessiert: der Begriff heißt "Galene"
Alles Gute noch!
Franzy

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