Epikur im Vergleich zur Stoa z.B. Seneca?

1 Antwort

Es gibt eine Anzahl von Unterschieden zwischen epikureischer und stoischer Philosophie, wobei diese Unterschiede zum Teil zusammenhängen und sich bedingen.

  • Naturlehre

grundlegendes Prinzip mit einem einzigen Eigenschaftsgesichtspunkt in epikureischer Philosophie, grundlegendes Prinzip mit zwei Eigenschaftsgesichtspunkten in stoischer Philosophie:

Nach Auffassung der epikureischen Philosophie gibt es Materie (sich im leeren Raum bewegende Atome) und alles Geistige und Seelische ist durch materielle Vorgänge verursacht (Zusammenstöße, Zusammensetzungen und Trennungen von Atomen). Nach Auffasssung der stoischer Philosophie gibt es ein zugleich geistiges und materielles/stoffliches Prinzip, dargestellt als ein feinstoffliches Feuer, als ein warmer Hauch (griechisch: πνεῦμα [pneuma]; lateinisch: spiritus) und als die Weltvernunft/der Logos (griechisch: λόγος [logos], daneben z. B auch νοῦς [Geist/Vernunft]; lateinisch: ratio). Die Weltvernunft/der Logos durchwirkt alles, mit unterschiedlicher Konzentration (Reinheit und Stärke). Die Weltvernunft/der Logos ist ein aktives Prinzip, das die Materie als passives Prinzip durchdringt, prägt, formt/gestaltet (wobei beide Prinzipien als Körper verstanden werden) und so die ganze Welt/Wirklichkeit zu einer organischen Einheit verbindet, den Kosmos. Die Weltvernunft/der Logos kann als eine Art von Träger von Information/geistigem Gehalt gedeutet werden, während er unter dem Gesichtspunkt einer Entwicklung von einem Bewegungsursprung her als Physis/Natur (griechisch: φύσις; lateinisch: natura) auftritt.

  • Götter/Gottheiten/Gott und Leitung der Welt durch eine Weltvernunft

keine Leitung der Welt durch Götter/Gottheiten oder eine Weltvernunft in epikureischer Philosophie, Leitung der Welt durch Götter/Gottheiten/Gott bzw. die Weltvernunft in stoischer Philosophie:

Nach Auffassung der epikureischen Philosophie gibt es Götter/Gottheiten, aber sie leiten nicht die Welt und es gibt auch keine Leitung des Weltgeschehens durch eine Weltvernunft. Die Welt ist keine göttliche Schöpfung, die Götter/Gottheiten kümmern sich nicht um die Angelegenheiten der Menschen und lenken/leiten nicht die Welt. Nach der Meinung der Epikureer leben die Götter/Gottheiten in Räumen zwischen den aus Atomballungen gebildeten Welten (Intermundien [Zwischenwelten]; griechisch: τὰ μετακόσμια [ta metakosmia]; lateinisch: intermundia) selig und sorglos, ohne sich sich um die Welten zu kümmern, und lassen sich von den Menschen nicht erreichen oder beeinflussen.

Nach Auffassung der stoischer Philosophie gibt es Götter/Gottheiten bzw. Gott und sie leiten das Weltgeschehen. Die Weltvernunft/der Logos lenkt den ganzen Kosmos, bestimmt also das Weltgeschehen, das wohlgeordnet ist. Die Weltvernunft/der Logos bringt gemäß einer festen Gesetzmäßigkeit die Entwicklung des Kosmos zustande. Alles hat seinen Platz in der universalen Ordnung. Der menschliche Geist/die Seele (griechisch: ψυχή [psyche]; lateinisch: animus) wird als Teil einer göttlichen, den Kosmos lenkenden und ihn erfüllenden Allvernunft verstanden. Die Weltvernunft/der Logos kann als eine Art von Träger von Information/geistigem Gehalt gedeutet werden, während er unter dem Gesichtspunkt einer Entwicklung von einem Bewegungsursprung her als Physis/Natur (griechisch: φύσις; lateinisch: natura) auftritt.

  • Standpunkt zu Schicksal, Notwendigkeit und Zufall

Weltgeschehen teils notwendig, teils zufällig zufällig, teils durch die Menschen verursacht, wobei die Notwendigkeit aufgrund einer Gesetzmäßigkeit der Natur nicht streng und ausnahsmlos ist und eine Schicksalsnotwendigkeit abgelehnt wird, in epikureischer Philosophie, Notwendigkeit des Weltgeschehens mit feststehendem Gang des Schickals in stoischer Philosophie:

Epikur vertritt (Brief an Menoikeus; Diogenes Laertios 10, 133) die Auffassung, manches geschehe notwendig, manches zufällig, manches durch die Menschen (die Menschen können also in einigem Ausmaß die Wirklichkeit und damit auch ihr eigenes Leben gestalten). Er nimmt eine Notwendigkeit aufgrund einer Gesetzmäßigkeit der Natur an, die aber nicht eine durchgehende strikte (strenge und ausnahmslose) Notwendigkeit alles Geschehens ist. Grundlage für Nicht-Notwendigkeit ist eine ab und zu stattfindende spontane minimale Abweichung (griechisch: παρέγκλισις [parenklisis]; lateinisch: clinamen) der Atome von der Bahn, auf der sie sich bewegen (diese Lehre ist in den wenigen erhaltenen Epikur-Texten nicht enthalten, aber in antiken Texten späterer Epikureer [Lucrez 2, 216 – 250; Diogenes aus Oinoanda Fragment 54 III 6 Smith; vgl. auch Marcus Tullius Cicero, De fato 21 - 25]). Dadurch gibt es einerseits Zufall (griechisch: τύχη [tyche]; lateinisch: fortuna), andererseits Spielraum menschlicher Willensfreiheit. Die Abweichung ist nur sehr gering und die Möglichkeit bleibt bestehen, in einem Ursache-Wirkung-Verhältnis Ziele anzustreben. Die Existenz einer Schicksalsnotwendigkeit (griechisch: εἱμαρμένη [heimarmene]; lateinisch: fatum) mit einer festen durchgehenden Notwendigkeit und Vorherbestimmung hat Epikur scharf verneint.

In der stoischen Philosophie wird der Logos mit Gott/Gottheiten/dem Göttlichen, der Vorsehung (griechisch: πϱόνοια [pronoia]; lateinisch: providentia) und dem Schicksal (griechisch: εἱμαϱμένη [heimarmene]; lateinisch: fatum) gleichgesetzt. In der Welt vollzieht sich das Geschehen nach stoischer Auffassung mit Notwendigkeit. Freiheit hat eine Person in der Innerlichkeit, in der Einstellung zum Geschehen (dies steht in Spannung zur Annahme der Schickalsnotwendigkeit und schafft ein Vereinbarungsproblem, weil eigentlich zu denken wäre, die Notwendigkeit erstrecke sich auch auf die innerliche Zustimmung/Nicht-Zustimmung). Der Gang des Schicksals des Menschen wird nach stoischer Auffassung als feststehend angenommen. Wer sich nicht fügen will, wird nachgezwungen und erleidet es also dennoch. Der Weise hat Einsicht darin, daß eine göttliche Vernunft (der Logos) die Welt durchwaltet und ist bereit, ihre Sinnhaftigkeit anzuerkennen, auch wenn das begrenzte menschliche Wissen nicht immer dazu ausreicht, dies voll zu durchschauen. Daher fügt er sich in das Schicksal/das Göttliche/die göttliche Ordnung. Eine Veranschaulichung der auf notwendige Weise geschehenden Bestimmung durch das Schicksal ist ein Gleichnis von Hund und Wagen: Wenn der an einen Wagen angebundene Hund folge und neben dem Wagen herlaufe, spüre er die Leine nicht. Wenn er sich zu widersetzen versuche, werde er mitgeschleift/fortgezogen. Entsprechend heißt es bei Seneca, Epistulae morales ad Lucilium 107, 11: Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. (Den Wollenden führt das Schicksal, den Nicht-Wollenden zieht es.")

  • Frage der Unsterblichkeit der Seele

keine Unsterblichkeit der Seele in epikureischer Philosophie, uneinheitliche Auffassung zur Unsterblichkeit der individuellen Seele in stoischer Philosophie:

Nach epikureischer Auffassung ist die Seele eine Zusammensetzung aus Atomen und sterblich, das heißt sie vergeht mit dem Tod, der eine Auflöung der Zusammensetzung bedeutet.

Die Stoiker haben keine einheitliche Auffasssung zur Frage der Unsterblichkeit der Seele vertreten. Es gab eine Überzeugung der Unsterblichkeit des umfassenden grundlegenden Prinzips, das nach Auffassung der stoischen Philosophie die ganze Welt/Wirklichkeit wie eine Art Weltseele durchwaltet und lenkt, ein Geist/eine Vernunft, auch Gott bzw. göttlich genannt. In jedem Wesen ist keimhafte Vernunft anwesend. Es gibt also Ausflüsse oder Absplitterungen des Logos, unvergängliche Samen oder Keime. In der Frage einer Unsterblichkeit der Seele menschlicher Individuen (ihren Körper hält Seneca eindeutig für vergänglich) ist Seneca schwankend. Seine Äußerungen sind nicht ganz einheitlich.

  • Grundlage der Ethik und Rolle der Tugend/Vortrefflichkeit

Lustethik mit Tugend/Vortrefflichkeit als ein Mittel zum Glück in epikureischer Philosophie, Tugendethik mit Tugend/Vortrefflichkeit als hinreichender Bedingung für Glück in stoischer Philosophie: Beide philosophischen Richtungen halten Glück (griechisch: εὐδαιμονία [eudaimonia; lateinisch: beatitudo) für das Ziel.

Nach epikureischer Auffassung besteht Glück in der Empfindung von Lust (griechisch: ἡδονή [hedone]). Lebewesen streben von Natur aus nach Lust. Lust ist ein angenehmer Zustand des Wohlbefindens. Die konkrete Bestimmung dieses Zustandes ist für Epikur die Seelenruhe („Unerschütterlichkeit“, griechisch ἀταραξία) und die körperliche Schmerzlosigkeit. Weil Epikur das Freisein von Unlust/Schmerz/Leid für vorrangig hält, kann seine Ethik als ein »negativer Hedonismus« (Vermeidung von Unlust/Schmerz/Leid ist vorrangig/am wichtigsten) bezeichnet werden.

In der stoischen Ethik ist das einzige sittlich/moralisch Gute die Tugend/Vortrefflichkeit (griechisch: ἀρετή [arete]; lateinisch: virtus). Unterschieden wird, was Menschen verfügbar und unverfügbar ist (was in ihrer Macht steht und was nicht). Allein die innere Einstellung ist nach stoischer Auffassung zu beeinflussen. Die Vernunft erteilt von außen an sie herantretenden Vorstellungen, die ein Streben in Bezug auf eine Verwirklichung auslösen können, ihre bewusste Zustimmung oder nicht. Die menschlichen Entscheidungen bestehen in der dabei vorgenommenen Wahl (zustimmen oder nicht). Ein Antrieb kann als Handlungsauslöser wirksam werden, aber nur wenn die Vernunft, die eine Kontrolle ausübt, dies zuläßt. Wenn eine (aufgrund verführerischer Überredung der Außendinge oder schlechter Unterweisung der Mitmenschen) verdrehte Vernunft falsch urteilt, entstehen Leidenschaften/Affekte. Diese können zu falschem Verhalten hinreißen. Tugend/Vortrefflichkeit besteht darin, irrigen Meinungen nicht zu verfallen und so den richtigen Weg zum Glück zu beschreiten. Tugend/Vortrefflichkeit gilt als ausreichend, Glück/Glückseligkeit zu erreichen. Das sittlich/moralische Schöne, das Anständige/Ehrenhafte (lateinisch: honestum; Übersetzung des griechischen Ausdrucks τò καλόν), das in einem tugendhaften/vortrefflichen Verhalten besteht, und das Nützliche (lateinisch: utile) fallen nach stoischer Lehre zusammen.

  • Oikeiosis-Lehre

Oikeiosis-Lehre (Grundbestrebung einer »Selbstzueignung«) nur in stoischer Philosophie:

Eine Grundbestrebung in der Welt ist nach der stoischen Philosophie die Oikeiosis (griechisch: οἰκείωσις; „Einhausung“; „Aneignung“; „Zueignung“; lateinisch gibt es keine völlige sprachliche Entsprechung, Cicero übersetzt mit commendatio und conciliatio, Seneca verwendet neben commendatio die Begriffe amor sui und conservatio sui). Jedem Lebewesen geht es um den ihm eigentümlichen Bestand seines eigenen Seins (Selbsterhaltung). Dafür Nützliches/Förderliches/Zuträgliches wird angestrebt, Schädliches/Abträgliches gemieden. Ausgehend von der Selbstzugewandtheit bezieht sich die Zuwendung nicht nur auf das eigene Selbst, sondern auch auf die anderen, verbindet schließlich die ganze Menschheit. Teilhabe an der Vernunft stiftenden Gemeinschaft gibt ein verbindendes Gesetz des Handelns vor.