Biologie, Selektion und Anpassung?

3 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Die beiden Definitionen finde ich ehrlich gesagt beide nicht gerade glücklich formuliert (zirkulär, wie @PFromage behauptet hat, sind sie jedoch nicht - jedenfalls kann ich in den Formulierungen keinen Zirkelschluss erkennen).

Tatsächlich kann man beide Definitionen aber auf zweifache Art und Weise deuten, genau deshalb finde ich sie extrem blöd formuliert!

Möglichkeit 1: Definition 1 umfasst Angepasstheit in Bezug auf morphologische Merkmale, Definition 2 umfasst Angepasstheit in Bezug auf Verhaltensmerkmale. Und vermutlich ist genau dies auch in der Aufgabenstellung gemeint. Tatsächlich finde ich dies aber höchst widersprüchlich, denn Evolution wirkt natürlich auf morphologische und verhaltensbiologische Merkmale gleichermaßen. Will man Angepasstheit definieren, muss dies eigentlich deshalb viel allgemeiner geschehen, sodass die Definition auf beide Formen von Merkmalen zutrifft (vgl. hierzu z. B. Richard Dawkins' Konzept des erweiterten Phänotyps, wonach bei einem Gen sämtliche seiner Wirkungen (also explizit auch auf das Verhalten oder die Regulation anderer Gene) betrachtet werden sollten und nicht nur die auf die phänotypisch sichtbaren morphologischen Merkmale).

Möglichkeit 2: erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Man muss ein wenig allgemeiner und um die Ecke denken. Für mich persönlich wird der Unterschied der beiden Definitionen dadurch aber wesentlich sinnvoller. Man kann nämlich die Frage: Warum sind Tiere so und so angepasst, auf zweierlei Arten beantworten, nämlich nach entweder

  • den proximaten Ursachen oder
  • den ultimaten Ursachen.

Die proximaten Ursachen sind die unmittelbar wirkenden (physiologischen, biochemischen und molekularbiologischen) Mechanismen, die zur Angepasstheit führen. Sie erklären also wie eine Anpassung entsteht, nämlich durch Variation (ständige Mutationen und Rekombination) und Selektion.
Die ultimaten Ursachen hingegen sind die Folgen, die sich aus der Angepasstheit ergeben, der Adaptationswert. Mit anderen Worten: es geht um die Frage, zu welchem Zweck eine Anpassung entsteht und worin ihr Überlebensvorteil besteht. Für weitere Details kannst du z. B. im Internet einmal nach den vier Warum?-Fragen von Niko Tinbergen (1973 Nobelpreisträger für seine verhaltensbiologischen Untersuchungen zusammen mit Karl Frisch und Konrad Lorenz) suchen, diese zielen nämlich genau auf den Unterschied zwischen proximaten und ultimaten Ursachen ab.

Vielleicht wird es an einem Beispiel leichter verständlich. Man könnte sich z. B. fragen: warum hat das Zebra Streifen?
Zielt die Frage auf die proximaten Ursachen ab, dann lautet die Antwort: das Zebra hat Streifen, weil es Gene besitzt, die dazu führen, dass in Haut und Haaren unterschiedlich viel Melanin (die dunklen Farbpigmente) produziert wird.
Zielt die Frage auf die ultimaten Folgen ab, lautet die Antwort: das Zebra hat Streifen, weil das Streifenmuster die Zebras vor der Tsetse-Fliege (Glossina sp.) schützt, welche mit ihrem Stich gefährliche Krankheitserreger (Trypanosoma brucei, Erreger der Nagana-Seuche) übertragen kann.

Die dritte Frage beschäftigt sich mit dem Hardy-Weinberg-Equilibrium (HWE), einem gängigen Modell der Populationsgenetik. Es geht davon aus, dass in einer idealen Population die Allelfrequenzen (die Häufigkeit eines bestimmten Allels im Gesamtgenpool) und die Genotypfrequenzen (der Anteil homozygoter bzw. heterozygoter Träger) konstant bleiben. Für den einfachsten Fall (es gibt von einem Gen nur genau zwei verschiedene Varianten, Allele genannt) gilt:

  • p sei die Allelfrequenz des dominanten Allels (A) für die dunkle Morphe (die so genannte Carbonara-Morphe). Sie setzt sich zusammen aus allen Allelen der homozygoten dunklen Individuen (AA) und zusätzlich der Hälfte der Allele der heterozygoten (Aa) Individuen - denn jedes heterozygote Individuum besitzt ja ebenfalls ein A-Allel (das andere Allel der Heterozygoten ist entsprechend das a-Allel).
  • q bezeichnet die Allelfrequenz des rezessiven Allels (a) für die helle Morphe und sie setzt sich entsprechend zusammen aus allen Allelen der reinerbig hellen Individuen (aa) und zusätzlich der Hälfte der Allele der heterozygoten (Aa) Individuen.
  • Die Gesamtheit aller Allele muss natürlich 100 % betragen. Da Allelfrequenzen als relative und nicht als absolute Werte angegeben werden, gilt also: p+q=1. Eine Allelfrequenz von z. B. p=0.3 bedeutet demnach, dass das Allel A mit einer Häufigkeit von 30 % im Gesamtgenpool (sowohl in den reinerbigen als auch den heterozygoten Individuen) vertreten ist. Entsprechend gilt dann q=1-p, also ist in diesem Fall q=0.7 (70 % des Gesamtgenpools).

Daraus lässt sich für die Genotypen folgende binomische Beziehung ableiten:

  • die Häufigkeit der homozygot dunklen Individuen (AA) beträgt p*p, also p^2.
  • die Häufigkeit der homozygot hellen Individuen beträgt analog dazu q*q, also q^2.
  • die Häufigkeit der heterozygoten (phänotypisch dunklen) Individuen beträgt dann 2pq.
  • Und es gilt insgesamt: p^2+2pq+q^2=1.

In der Graphik aus M2 ist der Anteil der dunklen Birkenspanner in Großbritannien von etwa 1960 bis 1980 dargestellt. Wenn wir uns den Verlauf des Graphen anschauen, dann gab es 1963 rund 91 % dunkle Birkenspanner. Wir können hierbei aber nicht zwischen reinerbigen (AA) und mischerbigen (Aa) Individuen unterscheiden, weshalb wir nicht wissen, wie hoch der Anteil reinerbiger und mischerbiger Individuen ist.
Aber wir können daraus zunächst schließen, dass es zur gleichen Zeit etwa 9 % heller Birkenspanner gegeben haben muss - und deren Genotyp kennen wir ja: er kann (da das Merkmal rezessiv ist) nur aa sein. Wir wissen daher, dass q^2 9 % beträgt, oder in relativen Zahlen ausgedrückt q^2=0.09 sein muss.

Durch Wurzelziehen können wir aus q^2 die Allelfrequenz q berechnen. Es ergibt sich somit: q=0.3 (also 30 %). Und daraus lässt sich nun die Allelfrequenz des dominanten Allels berechnen. Zur Erinnerung: es gilt p+q=1, womit wir durch 1-q das p berechnen können. Es muss natürlich 0.7 (70 %) sein.

Mit dieser Information lässt sich nun auch der Anteil homo- bzw. heterozygot dunkler Spanner berechnen:

Wenn wir für p unsere errechneten 0.7 einsetzen, gilt für die homozygoten Carbonara-Birkenspanner: 0.7*0.7 (oder eben 0.7^2), was 0.49 (oder 49 %) ergibt.

Den Anteil der Heterozygoten können wir nun entweder berechnen, indem wir p (0.7) und q (0.3) in die Beziehung 2pq einsetzen und für 2*0.7*0.3 damit 0.42 (also 42 %) erhalten.
Alternativ könnten wir den Anteil der Heterozygoten aber auch ermitteln, indem wir den Anteil der reinerbig dunklen (0.49 respektive 49 %) und der homozygot hellen (0.09 respektive 9 %) addieren (0.49+0.09=0.58)und von der Gesamtheit aller Individuen (1 respektive 100 %) abziehen, wonach der Anteil der heterozygoten Birkenspanner übrig bleibt (1-0.58=42).

Wir können die Frage damit beantworten: 1963 waren 9 % der Birkenspanner hell gefärbt und 42 % der Birkenspanner waren heterozygote Träger des Allels a.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig
BenJ4843 
Fragesteller
 07.02.2021, 16:14

Wow, vielen Dank für diese ausführliche Erklärung! Mit solch einer detaillierten Antwort hätte ich wirklich nicht gerechnet. Vielen lieben Dank für deine Mühe!

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PFromage  08.02.2021, 08:54

Ich möchte noch kurz erklären, weshalb ich die Definitionen für zirkulär halte. Unvermeidlich werde ich dabei ein paar Haare spalten.

Der Teufel steckt in einem Teil der Definition 2: „Dabei ver￾steht man unter Fitness ein Maß für die relative Anzahl der Gene, ..“ Worauf soll sich diese Relation beziehen? Auf Unterarten oder Variäteten oder Individuen derselben Art? Auf andere Arten? Ist somit eine Art, die mit R-Strategie fährt fitter als eine mit K? Ist ein Grasfrosch fitter als ein beliebiger Singvögel, weil er mehr Gene weiter gibt? Wieder: In Relation zu wem? Und wie weit? Bis zur Eiablage, zum Larvenstadium, zum adulten Tier? Oder gehen wir gleich wieder zur nächsten Generation? Dann wird es problematisch.

Es hilft auch nichts, wenn wir die Lebensdauer, Körpergröße, Überlebensrate (s.o.) als Kriterium für Fitness wählen.

Eine jede X-beliebige Art mit wieviel Nachkommen auch immer ist fit, solange sie existiert.

Damit wird aber „survival of the fittest“ zu einer Aussage, die immer wahr ist, zu einer Leerformel.

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PFromage  08.02.2021, 08:55

Ich möchte noch kurz erklären, weshalb ich die Definitionen für zirkulär halte. Unvermeidlich werde ich dabei ein paar Haare spalten.

Der Teufel steckt in einem Teil der Definition 2: „Dabei ver￾steht man unter Fitness ein Maß für die relative Anzahl der Gene, ..“ Worauf soll sich diese Relation beziehen? Auf Unterarten oder Variäteten oder Individuen derselben Art? Auf andere Arten? Ist somit eine Art, die mit R-Strategie fährt fitter als eine mit K? Ist ein Grasfrosch fitter als ein beliebiger Singvögel, weil er mehr Gene weiter gibt? Wieder: In Relation zu wem? Und wie weit? Bis zur Eiablage, zum Larvenstadium, zum adulten Tier? Oder gehen wir gleich wieder zur nächsten Generation? Dann wird es problematisch.

Es hilft auch nichts, wenn wir die Lebensdauer, Körpergröße, Überlebensrate (s.o.) als Kriterium für Fitness wählen.

Eine jede X-beliebige Art mit wieviel Nachkommen auch immer ist fit, solange sie existiert.

Damit wird aber „survival of the fittest“ zu einer Aussage, die immer wahr ist, zu einer Leerformel.

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Darwinist  08.02.2021, 12:52
@PFromage

Okay, ich verstehe, was du meinst. Ich kann dir dieses Missverständnis ganz leicht aufklären. Dein Irrtum ist, die Begriffe "Fitness" in der Definition 2 und im Ausspruch "survival of the fittest" gleichzusetzen. Tatsächlich bezeichnet beides aber zwei grundverschiedene Dinge. Das ist nicht dein Fehler, denn die Definition ist hier tatsächlich etwas unscharf formuliert.

In der Definition 2 bezieht sich der Begriff "Fitness" auf die biologische Fitness. Diese ist definitionsgemäß das Maß dafür, wie erfolgreich ein Individuum seine eigenen Gene in den Genpool der nachfolgenden Generation bringen kann. "In Relation zu ..." heißt also: wie groß ist der Beitrag eines einzelnen Individuums, den es in Relation zum gesamten Genpool beisteuert? Oder einfacher ausgedrückt: wie viele Kopien seiner Allele kann ein Individuum, direkt (durch eigene Nachkommen) oder indirekt (durch Unterstützung von Verwandten, siehe hierzu auch Verwandtenselektion) erfolgreich verbreiten?
Ein R-Stratege muss dabei nicht zwangsläufig erfolgreicher sein als ein K-Stratege. Denn es zählt nicht nur die bloße Zahl an Nachkommen (deshalb die Einschränkung erfolgreich), sondern natürlich müssen auch die Nachkommen ihrerseits wieder zur Fortpflanzung kommen und für den Fortbestand der Gene sorgen. Ein R-Stratege zeugt zwar viele Nachkommen, viele von ihnen erreichen aber niemals das Erwachsenenalter. Die meisten gehen zugrunde und damit kann ihr Elter mit ihnen seine Gene eben nicht erfolgreich weiterverbreiten, da sie ja mit dem Tod der Nachkommen untergehen. Für die biologische Fitness relevant sind nur die wenigen Nachkommen, die tatsächlich überleben.

Mit der biologischen Fitness hat der Spruch "survival of the fittest" hingegen nichts zu tun. Hier geht es tatsächlich um das Angepasstsein des Einzelnen. "The fittest" heißt in diesem Zusammenhang nämlich nicht, "Überleben des Fittesten", sondern es leitet sich vom Englischen "to fit" ab, was "passend sein" bedeutet. Korrekt übersetzt heißt das Zitat also "Überleben des Angepasstesten" und meint lediglich, dass diejenigen Individuen, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind, gegenüber den weniger gut angepassten einen Überlebensvorteil haben. Im konkreten Beispiel heißt das, dass bei schmutzigen Luftverhältnissen die dunkle Morphe besser angepasst ist und eher überlebt.

Selbstverständlich werden aber diejenigen Individuen, die am besten angepasst sind, am Ende auch einen durchschnittlich höheren Fortpflanzungserfolg haben als die weniger angepassten und können aufgrund ihrer Anpassung eine höhere biologische Fitness erreichen.

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S. auch Fuchssprung.

Die erste Definition bezieht sich auf Merkmale, deren Auftreten und Häufigkeit durch genetische Variation und Selektion beeinflußt wird, die zweite auf Verhaltensweisen, die eine unterschiedliche Weitergabe der Gene beeinflussen.

Für die Färbung wäre eher die erste passender. Nach den Maßnahmen zur Luftreinhaltung wurden die Birkenrinden wieder heller=sauberer; die dunklen Spanner hatten keinen Selektionsvorteil mehr, ihr Anteil nahm ab.

NB: Mir gefallen beide Definitionen nicht, weil sie zirkulär sind, aber egal.

Zum Hardy: Da ich die Aufgabe schon einmal gesehen habe, setze ich mal folgende Zahl ein: 1963 gab es 9% helle und 91% dunkle Formen.

Bezeichnen wir die Häufigkeit des dunklen Allels A (denn es ist dominant) mit p, die des hellen, rezessiven Allels a mit q, dann gilt für den gesamten Genpool die Beziehung p(A)+q(a)=1.

Für die die Häufigkeiten der Allelkombinationen=Merkmalsträger gilt das Binom
p^2+2pq+q^2=1. Dabei ist

p^2 die Häufigkeit der reinerbigen, schwarzen Tiere also AA
2pq die Häufigkeit der mischerbigen, schwarzen Tiere also Aa
q^2 die Häufigkeit der reinerbigen hellen Tiere also aa

q^2 ist aber 0,09 (9%) somit q(a)=0,3.
Dann ist p(A)=0,7 also die Häufigkeit der reinerbigen schwarzen 0,49 (49%), der mischerbigen schwarzen 0,42.

BenJ4843 
Fragesteller
 07.02.2021, 16:14

Vielen Dank!

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Ich habe mir nicht die gesamte Aufgabe durch gelesen, die war mir zu lang. Aber ich habe das Bild vom Birkenspanner gesehen und die Karte von GB. Das sollte reichen. Denn bei solchen Aufgaben geht es immer um die Anpassung der Tiere in der Zeit der rauchenden Schlote und der größten Umweltverschmutzung. Damals waren die Birken nicht weiß, sondern schwarz von dem Dreck aus den Schloten. Deshalb haben sich die Birkenspanner an diesen neuen Untergrund angepasst. Nach dem die Luft wieder sauberer war und die Birken wieder weiß waren, mussten sich die Birkenspanner erneut an die Farbe der Bäume anpassen. Sie wurden wieder weiß, weil die schwarzen Exemplare von den Vögeln gesehen und gefressen wurden.

BenJ4843 
Fragesteller
 06.02.2021, 16:23

Danke für deine Antwort! Soweit war mir das zwar auch klar, aber trotzdem Dankeschön! Vielleicht kann mir ja aber auch jemand bei den zu beantwortenden Aufgaben weiterhelfen :)

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