Anderes: Bartwachstum
Alles, was in dieser Gutefrage-Umfrage als Auswahlmöglichkeit für M gilt, hat mich nicht interessiert und war kein Problem. Ich bin aber auch Ü50 und nicht die Zielgruppe. "OK Boomer!" darf man jetzt antworten.
Für mich war aber das beginnende Bartwachstum ein Thema. Jegliche andere Körperbehaarung war für mich in der Zeit meines Aufwachsens normal. Ich kann mich erst in der Studienzeit in den Neunzigerjahren daran erinnern, rundherum glatt rasierte Menschen regelmäßig gesehen zu haben. In den Siebzigern und Achtzigern waren wir in Verein, Badesee, Sauna usw. regelmäßig unter ganz oder halb Nackten jeden Geschlechts und jeden Alters, so dass mir bezogen auf körperliche Entwicklung beim Aufwachsen nie etwas besonderes auffiel. Die Sehgewohnheiten waren durch Beobachtung der Realität geformt und man wusste aus Erfahrung, das es eine Bandbreite an körperlichen Erscheinungen und Mustern gibt.
Mit Unbehagen erinnere ich mich an den beginnenden ersten Bartwuchs im Alter von 14 oder 15 Jahren. Das war unangenehm, weil ich üblicherweise als "Milchbubi" bezeichnet wurde. Versteht man dieses Wort heute noch? Es war nicht freundlich gemeint, aber für mich war es eine stimmige Beschreibung, denn ich fühlte mich emotional kindlich und dazu passte ein Bartflaum so gar nicht. Also wollte ich den loswerden, aber wusste nicht, wie ich an einen Rasierer kommen sollte. Das Rasiermesser von meinem Vater war im abgeschlossenen Badezimmerschrank verwahrt. Mir war das Thema auch so peinlich, dass ich mich nicht traute, meine Eltern oder andere Erwachsene um Rat zu fragen. Einen Drogeriemarkt mit Selbstbedienung gab es bei uns noch nicht, man hätte in ein muffiges Fachgeschäft mit einem humorlosen, bekittelten Betreiberpaar gehen müssen, und eher wäre ich gestorben, als da um Beratung zu bitten. Ich hätte auch nicht gewusst, was das kostet, und ob das angesparte Taschengeld dafür reicht, oder ob ich erst noch jobben hätte gehen müssen, um nicht mit zu wenig Geld im Laden zu stehen und noch dümmer und unreifer zu wirken als ohnehin schon. Alles große Probleme für einen "Milchbubi".
Das Unbehagen mit dem eigenen Äußeren war eine Belastung, die erst endete, als man mir zum Geburtstag einen Elektrorasierer schenkte - mein Onkel war in die Bresche gesprungen. Ob es der 16. oder der 17. Geburtstag war, weiß ich gar nicht, die Phase des stillen Horrors, in der sich der Flaum Woche um Woche zu einem unpflegbaren Stoppelbart verfestigte, schien jedenfalls ewig zu dauern, aber mit 17 war sogar ich schon aus der "Milchbubi"-Phase herausgewachsen, es müsste also der 16. gewesen sein. Am folgenden Tag ging ich glatt rasiert und erleichtert in die Schule und fühlte mich endlich gepflegt und ab dann auch etwas selbstbewusster.
Um der Frage in den Kommentaren zuvorzukommen: "Und der Stimmbruch?" Vor dem habe ich mich gefürchtet. In der Schule hatten wir vieles über biologische Fakten der Pubertät gelehrt bekommen. Trotzdem wusste ich nicht, was genau der Stimmbruch sein sollte, aber es schien so, als wäre das eine erniedrigende Sache. In Jugendbüchern oder Zeitschriften wurde das Thema lächerlich gemacht, "seine Stimme kiekste mitten im Referat und die Mädchen lachten ihn aus" oder "beim Singen brach seine Stimme, und darum musste der den Chor und damit seine Freunde verlassen", und das war ein grauenvoller Gedanke. Aber in meinem realen Umfeld konnte ich nie feststellen, wann dieser katastrophale Stimmbruch denn nun stattfand. Gewiss, die Stimmen änderten sich im Laufe der Pubertät, aber das lief in meiner Wahrnehmung ganz folgerichtig ab und passte zur körperlichen Entwicklung insgesamt, also nicht so, wie es in den Geschichten beschrieben worden war. Es entwickelte sich in mir ein Misstrauen gegenüber Schreiberlingen gemischt mit Selbstzweifeln an meiner eigenen Wahrnehmung: Entweder achteten die Autoren bei ihren Beobachtungen auf andere Details bei Menschen als ich, und ich war also unnormal. Oder sie verhielten sich unnötig gehässig gegenüber einem natürlichen Vorgang, um aus dieser Gehässigkeit Spannung und große Gefühle für Geschichten zu erzeugen, um sie verkaufen zu können. Und nicht, um aufklärend und sachlich zu wirken, wie ich es in Büchern bevorzuge.
Bei in der Literatur ebenfalls sagenumwobenen Aspekten wie dem ersten Samenerguss war es ähnlich. Die Furcht davor und das allgemeine Lächerlich- und Verächtlichmachen des Wortes und des Vorgangs war viel größer als meine späte Erkenntnis, dass damit etwas schon längst bekanntes gemeint war.
Im Vergleich zu damals scheinen sich heute Nacktheit und Körperlichkeit zum Tabu zu entwickeln. In den Siebzigern waren reichliche Körperbehaarung und wallendes Haupthaar modisch. Wie auch die selbstverständliche Intim- und Achselbehaarung, die sich seitdem zum mit Ekel behafteten No-Go entwickelt zu haben scheinen, während Tätowierungen immer üblicher werden, was ich umgekehrt gar nicht mag. Zum Glück wird heute über vieles andere ausführlicher und freier gesprochen und darum gerungen. So ändern sich die Zeiten und entstehen und verschwinden modische Strömungen und Sehgewohnheiten bezogen auf Körperlichkeit. Ich bin gespannt, wohin die Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten noch geht.