Hallo, liebe Weiner, fast möchte ich schreiben, "geliebte" Weiner, denn das Weinen ist eine wunderbare Eigenschaft, die wir Menschen haben, allen Tieren weit voraus, soweit ich weiß. Wie das echte Lächeln und Lachen.
Ich bin ein alter Mann (78) und hatte über 35 Jahre meines Lebens nie geweint (von 19 bis 54), weil das in meiner Jugend als un-männlich galt, und man (!) doch männlich sein wollte, oder richtiger sollte. Das hat Schmerzen gebracht, weil ich mein Weinen nicht erfahren konnte, ja mich vor meinen feinen Gefühlen verschloss. 35 Jahre lang!
Warum weinen wir? Körperschmerzen oder seelische Schmerzen sind zwei von vielen Gründen. Da sind Freude, Rührung, Liebe, Hass, Wut, schöne Erlebnisse, Trauer, Verzweiflung, Körperschmerzen ... und vieles, das jede/r an sich selbst erfahren kann, wenn wir hingucken.
Im Weinen öffnen wir uns für uns selbst, lassen unsere persönliche*) Einzigartigkeit zu, schätzen und lieben sie. Wir erfahren Eigenschaften von uns, vor denen wir uns sonst verschließen. Im Weinen zeigen wir unseren Mitmenschen, wo wir gerade stehen, wie wir uns fühlen, deswegen ist Weinen eine Botschaft für die anderen. Dadurch kommt eine Beziehung zustande - ob sie auf der Wutseite oder auf der Freudeseite ist, es ist immer eine Beziehung. Selbst wenn wir das Weinen vor andweren verbergen, ist das eine Botschaft, nämlich, "ich bin hart, ich ertrage dein Verletzen, oder, ich ertrage deine Liebe (wehre sie aber ab), ich ertrage es, wenn jemand Schmerzen oder Schönheit austrahlt und wehre das Erleben ab."
*) das mit dem Persönlichen bist allerdings ein eigenes Thema zum Verstehen..
Nach dem Krieg hatten sehr viele Erwachsene, die ihn miterlebt hatten, zusammengekniffene Lippen und haben nicht mehr geweint und haben sich statt dessen Massen von Neurosen eingehandelt, die sie unbewußt auf ihre Kinder und Enkel übertragen haben. Ab meiner Generation, geboren in den 30er und 40er Jahren, öffneten sich die Lippen wieder, doch das Weinen kam erst Jahrzehnte danach zurück.
Ich empfehle: beobachte deine Seele genau, wenn das Weinen kommt, schließe dich nicht auf´s Klo ein sondern lass es deine Mitmenschen erleben, es gehört in diesem Moment zu dir, das bist du, und deine Familie und Kollegen sollen das erleben, sollen dein wahres Wesen erfahren. Es wird dir nichts geschehen. Wer weinen kann, wird stark, nicht unbedingt gesellschaftlich stark sondern seelisch stark.
Leider hatte die harte Zeit der Nazis auch mein Weinen vergewaltigt. Und ich brauchte sehr lange, um es wieder hervorkommen zu lassen. Dann ab 54 kamen ein paar Jahre mit viel Weinen - Weinen gehört zu den Grundrechten des Menschen hat Osho gesagt -, und seit dem weine ich nur noch sehr selten laut nach außen, aber stille Tränen kommen mir oft. Selten aus Schmerz, meistens aus Freude und Liebe und Rührung - zum Beispiel über diesen Text, den ich gerade schreiben darf, und ich danke Euch für die Anregung. Ich habe den Eindruck, daß ich von 54 bis 60 alle die Tränen geweint habe, die ich in den 35 Jahren davor unterdrückt hatte, zweimal eine Stunde im Stück geweint, zusammen mit anderen.
Wir dürfen "heulen", es gehört zu uns Menschen, auch wenn manche mehr, andere weniger heulen.
Wenn du "bei traurigen Filmen, traurigen Momenten, traurigen Abschieden" weinen mußt oder möchtest, zeigst du, daß du die Traurtigkeit verstanden hast. Daß du anwesend bist.
Grüße aus Wismar von Aryaman Stefan (mit ein paar freudigen Tränen)