Wodurch unterscheidet sich die moderne von der früheren Evolutionsforschung?

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Die heutige Evolutionsbiologie (die so genannte synthetische Evolutionstheorie, manchmal auch Neo-Darwinismus genannt) unterscheidet sich zum einen von der klassischen darwinistischen Evolutionstheorie (Darwinismus) dadurch, dass sie in die Erklärung der Artentstehung auch die Erkenntnisse aus der Genetik (z. B. die klassische Mendel-Genetik), der Populationsgenetik (Verteilung und Veränderung von Allelfrequenzen in und zwischen Populationen), der Molekularbiologie (Bau der DNA, DNA-Sequenzierung usw.) und auch Erkenntnisse aus Ökologie und Verhaltensbiologie einbezieht. Es ist also eine Zusammenführung (Synthese) der Erkenntnisse der verschiedensten Diziplinen der Biologie, um die Artentstehung erklären zu können. Obwohl die heutige Evolutionsbiologie mehr ist als der Darwinismus, spielen die Gedanken Darwins dennoch weiterhin eine große Rolle und sind heute allgemein akzeptiert.

Ein anderer wesentlicher Unterschied ist, dass die klassische Evolutionsbiologie vor allem anekdotenhaft arbeitete. Man hat in der Natur etwas beobachtet und daraus seine Schlüsse gezogen. Heute arbeitet man nicht mehr mit einzelnen Beobachtungen, sondern mit einer großen Fülle von Einzelbeobachtungen und wertet die Ergebnisse mit komplizierten mathematischen Verfahren statistisch aus. So kann man ausschließen, dass eine einzelne Beobachtung lediglich ein zufälliges Ereignis gewesen ist und kann testen, wie "belastbar" die erhobenen Daten sind.

Um an dieser Stelle vielleicht nur einmal ein kleines Beispiel zu nennen. Ein Verfahren, das bei der Erstellung von Stammbäumen (z. B. auf Grundlage von DNA-Sequenzen) oft angewendet wird, ist das Bootstrapping. Vereinfacht gesagt wird dabei getestet, wie verlässlich eine Aufzweigung im ermittelten Stammbaum auch wirklich eine Aufzweigung ist. Beim Bootstrapping wird durch zufälliges Ziehen von Werten aus dem Originaldatensatz ein neuer Pseudo-Datensatz erstellt und mit diesem die Stammbaumberechnung erneut durchgeführt. Im klassischen Urnenmodell ist es ein "Ziehen mit Zurücklegen", das so oft wiederholt wird, bis die Zahl der Einzelwerte wieder der Größe des originalen Datensatzes entspricht. Weil es ein Ziehen mit Zurpcklegen ist, werden dabei einige Werte mehrfach gezogen, andere dafür gar nicht. Dieses Vorgehen wird mehrere Male wiederholt (üblich sind Bootstraps mit 100 bis 500 "Durchgängen"). Am Ende wird dann für jeden Zweig des Stammbaums ein Bootstrap-Wert ermittelt. Der gibt an, wie häufig die gleiche Verzweigung auch in den Pseudo-Datensätzen auftaucht. In der Regel gilt dabei ein Bootstrap-Wert von 90 als sehr verlässlich. Bei einem Bootstrap-Wert von 50 sieht das schon anders aus - in dem Fall beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass man eine Verzweigung als richtig annimmt und sie auch tatsächlich richtig ist, 50 %. Mit anderen Worten: sie kann richtig sein, kann aber mit der gleichen Wahrscheinlichkeit auch falsch sein.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig