Wieso endete die französische Revolution mit der Verabschiedung der Verfassung von 1791 nicht?


14.11.2020, 12:49

Camille Desmoulins (Revolutionär) sagt z.B.: ,,Um den ganzen Widersinn dieses Dekretes vor Augen zu führen, braucht man nur darauf hinweisen, dass Jean Jacques Rousseau (-Aufklärer) nicht wählbar gewesen wäre. Die aktiven Bürger sind diejenigen, die die Bastille gestürmt haben, die die Felder urbar machen..."

Was wäre hiermit gemeint?

2 Antworten

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Mit der Verabschiedung der Verfassung am 3. September 1791 war zum einen nicht alles mit allgemeiner Zufriedenheit geklärt (die Aussage von Camille Desmoulins kritisiert das Wahlrecht), zum anderen kam es auch auf die Umsetzung in der politischen Praxis an. Außerdem hat es sich verschärfende Gegensätze mit unterschiedlichen Interessen und Überzeugungen.

Faktoren waren:

  • Unzufriedenheit mit einigen Bestimmungen der Verfassung, vor allem dem Wahlrecht
  • Fehlen einer völligen politischen Einmütigkeit zumindest einer sehr großen Mehrheit
  • Schwierigkeiten mit der Umsetzung der Verfassung in der politischen Praxis, unter anderem wegen einer Abneigung des Königs, die neuen Verhältnisse dauerhaft auch innerlich zu bejahen
  • Streitigkeiten im Bereich von Kirche und Religion, die sich verschärften
  • außenpolitische Spannungen

Es gab Anhänger einer Monarchie, die sich eine stärkere Stellung des Königs wünschten. Andererseits ging einigen schon das in der Verfassung enthaltene Vetorecht des Königs mit aufschiebender Wirkung zu weit. Die Verfassung von 1791 war eine Verbesserung gegenüber dem Absolutismus, in dem es keine geschriebene Verfassung gab. Ein Bestandteil der Verfassung von 1791 waren die bereits 1789 erklärten Menschen- und Bürgerrechte. Die Standesunterschiede waren abgeschafft. Adel und Klerus hatten keine Privilegien mehr (z. B. auch nicht bei dem Zahlen von Steuern). Die natürlichen und bürgerlichen Rechte wurden als Grundeinrichtungen festgeschrieben. Die Rechte und Freiheiten bedeuten mehr Rechtssicherheit und freie Entfaltungsmöglichkeiten.

Das Volk hatte aber nicht alles bekommen. Das Wahlrecht war nicht allgemein, sondern an ein Mindestmaß an Steuerzahlung gebunden, also von Besitz/Einkommen abhängig. Am 22. Dezember 1789 hat die Nationalversammlung mit 453 gegen 443 Stimmen ein Gesetz beschlossen, das ein Zensuswahlrecht enthielt. Sogenannte Aktivbürger waren Franzosen (nur Männer, keine Frauen), die seit mindestens 1 Jahr in Frankreich ansässig waren, mindestens 25 Jahre alt waren und direkte Steuern im Wert von mindestens 3 Arbeitstagen zahlten (2 - 3 Livre jährlich); für Wahlmänner betrug die Zahlung direkter Steuern den Wert von mindestens 10 Arbeitstagen (7 – 10 Livre jährlich), für Abgeordnete waren Grundbesitz und eine Zahlung von direkten Steuern von mindestens 50 Livre Voraussetzung. Die sogenannten Aktivbürger konnten Beamte, Richter und die Wahlmänner wählen, die dann die Nationalversammlung wählten. Abgeordneter der Nationalversammlung konnte auch nur werden, wer eine Mindestsumme an Steuern zahlte. Andere galten als sogenannte Passivbürger. Durch dieses Zensuswahlrecht waren von 25 Millionen Gesamtbevölkerung und etwa 7 Millionen Männern 4, 3 Millionen Aktivbürger, nur 50.000 Wahlmänner. Ein nicht geringer Teil des Volkes war damit vom Wahlrecht ausgeschlossen. Diese Regelung entsprach nicht völlig einem Gleichheitsgrundsatz. Es gab Forderungen nach einem allgemeinen gleichen Wahlrecht.

Die am 3. September 1791 verabschiedete Verfassung enthielt ein Wahlrecht mit sehr ähnlichen Bestimmungen (Titel III, Kapitel 1, Abschnitt 2, Artikel 2 – 7).

https://de.wikipedia.org/wiki/Franz%C3%B6sische_Verfassung_(1791)

http://www.verfassungen.eu/f/fverf91-i.htm

Camille Desmoulins kritisiert das Wahlrecht mit dem Hinweis: Der berühmte philosophische Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1788) wäre nach dem Wahlrecht der Verfassung nicht als Wahlmann wählbar gewesen.

Desmoulins widerspricht der Unterscheidung zwischen Aktivbürgern und Passivbürgern nach einem finanziellen Maßstab (Reichtum oder Armut). Als aktive Bürger möchte er die verstehen, die sich politisch mit Reden und Taten einsetzen (z. B. bei der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789) oder in der Landwirtschaft (Felder urbar machen) für eine wirtschaftliche Grundlage Arbeit leisten (Bauern/Landarbeiter).

Die Wünsche, Interessen, Gedanken und Ziele des ganzen Volkes waren nicht völlig gleich. Nicht alle waren mit den Verhältnissen 1791 völlig zufrieden.

Die politische Neuordnung konnte nur gut funktionieren, wenn zwischen Nationalversammlung und König eine ausreichende Zusammenarbeit stattfand.

Die Einmütigkeit der Revolutionäre war nicht unbegrenzt, es gab verschiedene politische Gruppierungen. In den genauen Zielsetzungen gab es Abweichungen. Es gab Meinungsverschiedenheiten über die Deutung der Revolution und die daraus abzuleitende Taktik. Ein Teil der Jakobiner (z. B. Robespierre) und die Cordeliers waren nicht in jeder Hinsicht zufrieden. Bei den Abgeordneten stellte diese Opposition zwar zunächst nur eine deutliche Minderheit dar, doch konnte sich dies bei auftretenden Problemen verändern.

Die Volksmenge in Paris, in Sektionen der Kommune von Paris organisiert, hat wiederholt mit großen Aktionen einen revolutionären Schub bewirkt. Eine als Sansculotten bezeichnete städtische Massenbewegung des einfachen Volkes hat in einigen Phasen eine wichtige Rolle gespielt. Es gab auch soziale Ziele.

Es gab eine Nationalisierung von Kirchengütern. Der Papst lehnte einen Eid von Priestern auf die neue Verfassung ab. Priester verweigerten den Eid auf die neue Verfassung, was einen religiösen Konfliktherd (viele traditionelle/konservative Katholiken als Gegner) herbeiführte.

Der König Ludwig XVI. wollte gerne die Entwicklung zurückdrehen, zu der alten absolutistischen Stellung. Er übernahm nicht klar und dauerhaft, also über taktisches Nachgeben hinaus, die neue Rolle in einer konstitutionellen Monarchie. 1791 hatte es schon einen Fluchtversuch der Königsfamilie gegeben. Ludwig XVI. setzte sein Veto ein, das er in der Verfassung erhalten hatte, was Ärger auslöste.

Eine Anzahl von Aristokraten lehnte die Revolution ab, es gab Emigranten. Ihr Wirken im Ausland und Stellungnahmen von ausländischen Fürsten führen zu außenpolitischen Spannungen.

In Darstellungen der Französischen Revolution, sind Erklärungen für das Weitergehen der Revolution enthalten, z. B.:

Axel Kuhn, Die Französische Revolution. 6. Auflage. Stuttgart : Reclam, 2013 (Reclams Universal-Bibliothek ; Nr. 18912 : Reclam-Sachbuch). ISBN 978-3-15-018912-2

Susanne Lachenicht, Die Französische Revolution. 2., aktualisierte Auflage. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2016 (Geschichte kompakt : 19./20. Jahrhundert. WBG - Wissen verbindet). ISBN 978-3-534-26807-8

Rolf Reichhardt, Jakobiner. In: Enzyklopädie der Neuzeit: Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Band 5: Gymnasium - Japanhandel. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2007, Spalte 1178 - 1188

Ernst Schulin, Die Französische Revolution. 5. Auflage. München : Beck, 2013 (Beck's historische Bibliothek). ISBN 978-3-406-65877-8

Hans-Ulrich Thamer, Die Französische Revolution. Originalausgabe. 5., durchgesehene Auflage. München : Beck, 2019 (Beck'sche Reihe : C.-H.-Beck-Wissen ; 2347). ISBN 978-3-406-50847-9

S. 46: „Für die Mehrheit der Abgeordneten war die Verfassung, die schließlich im Herbst 1791 verkündet wurde, Ausdruck eines Kompromisses und der Hoffnung, damit die Revolution beenden zu können. Für den König war die Verfassung innenpolitisches Mittel, um die Revolution zu stoppen und die Ordnung in seinem Sinn wiederherzustellen. Für die demokratische Opposition in der Konstituante war das Ergebnis des Verfassungskompromisses alles andere als befriedigend. Sie kritisierte heftig die Erblichkeit der Monarchie, die Fortexistenz des Hofes und das Wahlrecht. Damit war vorhersehbar, daß die Verfassung kaum ihre Aufgabe der inneren Stabilisierung erfüllen konnte, zumal die inneren Gegensätze im Parlament sich mittlerweile verfestigt, die städtische Volksbewegung sich politisiert und radikalisiert hatte.“

Johannes Willms, Tugend und Terror : Geschichte der Französischen Revolution. München : Beck, 2014. ISBN 978-3-406-66936-1

https://langzeitarchivierung.bib-bvb.de/wayback/20190716085806/https://www.historicum.net/de/themen/franzoesische-revolution/einfuehrung/verlauf/artikel/iii-konsolidie/

https://langzeitarchivierung.bib-bvb.de/wayback/20190716085801/https://www.historicum.net/de/themen/franzoesische-revolution/einfuehrung/verlauf/artikel/iv-revolution/

https://langzeitarchivierung.bib-bvb.de/wayback/20190716085804/https://www.historicum.net/de/themen/franzoesische-revolution/einfuehrung/verlauf/artikel/v-radikalisier/

lindafenn67 
Fragesteller
 14.11.2020, 17:14

Wow, ich bin fasziniert...was Sie sich für eine Mühe gemacht haben: vielen lieben Dank! Das hätte nicht sein müssen...Liebe Grüße, bleiben Sie gesund - wir bräuchten mehr Menschen wie Sie ^_^

3

Das, was nachher folgte, würde man heute als politische und religiöse Säuberung nennen. Das dauerte an die zehn Jahre.