Wie würdet ihr die Minderheitenpolitik im deutschen Kaiserreich bewerten?

2 Antworten

Ich muss hier Ruenbezahl widersprechen; die Regierung des Wilhelminischen Deutschland war sich seiner Minderheiten sehr wohl bewusst, da gab es mehrere Baustellen, nämlich die Polen im größten Teil der preußischen Provinz Posen und zum Teil in Westpreußen, da gab es die Dänen in Nordschleswig, die Franzosen im Nordwesten des Reichslandes Elsass Lothringen, sowie - eher folkloristisch - die Sorben im Spreewald. 

Gegenüber diesen Minderheiten, wobei ich Probleme habe, Volksgruppen, die sich nur durch eine verunglückte Grenzziehung außerhalb ihrer Stammlande befanden, als Minderheiten zu bezeichnen, war die Politik zögerlich, inkonsequent und daher letztlich zum Scheitern verurteilt. Niemals aber hat es Versuche gegeben, diese zu ignorieren, wie es zum Beispiel die Türken über Jahrzehnte hin mit den Kurden (als Bergtürken bezeichnet) getan haben. 

Ich besitze eine Ansichtskarte aus dem Straßburg jener Zeit mit Aufschriften in Deutsch und Französisch, obwohl dort damals die große Mehrheit deutsch sprach. Aber gerade in Elsass-Lothringen war die Minderheitenpolitik besonders restriktiv. Zwar sprachen die kaisertreuen Medien von heimgeholten Landeskindern, das mental ziemlich beschränkte Militär tat so, als sei dies eine Westmark gegenüber dem Erzfeind Frankreich; das war höchst kontraproduktiv (Zabern-Zwischenfall), und verhinderte eine Re-Integration in den deutschen Sprachraum und letztlich auch ins Reichsgebiet, die bei umsichtiger liberaler Politik in den 47 Jahren durchaus machbar gewesen wäre.

Eine Großbaustelle wären die Polen in Posen und Westpreußen gewesen, hierbei wäre aber eine Wiederherstellung des im 18.Jahrhundert zerfallenen polnischen Staates schon deshalb nicht möglich gewesen, weil Österreich und Russland, wo der weit größere Teil der Polen lebten, dem energisch widersprochen hätten. So waren dies willkommene Verbündete des preußisch dominierten deutschen Reiches, die Polen kurz zu halten, was sich in den Nachkriegsjahren des Ersten Weltkriegs bitter rächte.

Es gab selbstverständlich - aus der heutigen Sicht eher bescheidene - Germanisierungsversuche, etwa Umbenennungen von Städten mit polnischen oder französischen Namen, Versuche im Hauruck-Verfahren Präsenz zu zeigen (kaiserliches Schloss in Posen, ziemlicher Anachronismus). Teilweise versuchte man durch Begünstigung von Ansiedlungen deutscher Bauern (etwa in Nordschleswig), oder deutscher Verwaltungsbeamter (z.B. im überwiegend francophonen Metz) eine vorsichtige Germanisierung, die letztlich auch zum Scheitern verurteilt war.

Eine Minderheit habe ich bewusst ausgespart, weil sie im Kaiserreich keine war, nämlich die Juden. Natürlich gab es, wie in vielen Staaten auch, einen verbreiteten latenten Antisemitismus im Bürgertum, doch die Juden der damaligen Zeit haben sich immer als Deutsche gefühlt, haben selbstverständlich  im Militär gedient und als wohlhabende Bankiers, Ärzte, Fabrikanten, Kaufleute vielfach Großes für ihre Gemeinden geleistet. Die Machthaber des Dritten Reiches haben es ihnen schlecht gedankt.

Das deutsche Kaiserreich hatte eigentlich gar keine Minderheitenpolitik, weil es seine Minderheiten nicht zur Kenntnis nahm, so wie es die meisten europäischen Staaten machten. Eine Ausnahme war Österreich, das seine verschiedenen Völker und ihre Sprachen respektierte.