Welche Wirklichkeitsbereiche/Erkenntnisstufen unterscheidet Platon im Höhlengleichnis?

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Eine Unterscheidung von Wirklichkeitsbereiche und Erkenntnisstufen kommt in Platons Höhlengleichnis vor. Allerdings ist bei der Darstellung im Text des Höhlengleichnisses selbst dann 1. noch weiter zu denken, wofür etwas jeweils gleichnishaft (in einem Verhältnis des Gleichens/Ähnelns) steht (als Entsprechung/Analogon), und 2. vielfach ein Wirklichkeitsbereich und eine Erkenntnisstufe auf den Begriff zu bringen, weil nicht alle Begriffe im Gleichnistext selbst ausdrücklich vorkommen.

Daher ist ein befriedigendes Ergebnis nur möglich, wenn ein größerer Zusammenhang einbezogen wird.

Eine gewisse Schwierigkeit tritt dabei auf, weil die Höhle und die Welt außerhalb/oben nicht ausdrücklich in ganz klarer Weise gegliedert werden, Einzelheiten nicht immer vollständig nach einem festen Schema eingetragen werden, die Gesichtspunkte in Gleichnissen nicht ganz gleich und festbleibend sind und deutende und erläuternde Hinweise zum Höhlengleichnis auch aus dem größeren Zusammenhang ergänzen.


Das berühmte Höhlengleichnis, das Platon in seinem Werk «Politeia » geschrieben hat (514 a – 517 a), ist nach anschließend gegebenen Hinweisen (517 a – 521 b und 532 a– 535 a) im Zusammenhang mit dem Sonnengleichnis (508 a – 509 d) und dem Liniengleichnis (509 d – 511 e) zu deuten. Dies ist eine methodische Hilfestellung des Autors selbst.

Eine Unterscheidung von Wirklichkeitsbereichen und der Art nach jeweils darauf bezogenen Erkenntnisstufen ist für eine Auflistung in knapper systematischer Form am besten im Liniengleichnis greifbar.

Im Liniengleichnis wird eine Linie zuerst in 2 ungleiche Teile/Abschnitte geteilt und dann diese beiden Teile/Abschnitte noch einmal in eine Teilung in einem Verhältnis entsprechend der Teilung in 2 ungleiche Teile/Abschnitte. Von den 4 Teilstrecken sind die beiden mittleren gleich lang, wie sich aus der angegebenen Konstruktion ergibt.

Wirklichkeitsbereiche im Höhlengleichnis (nicht die Entsprechung und nicht genau auf den Begriff gebracht)

1) Höhlenraum (eine unterirdische Behausung gefesselter Menschen mit Eingang, einem Feuer und einem Querweg und an diesem entlang eine kleine Mauer)

a) Schatten

b) Höhlenwelt, Gerätschaften, bildliche Darstellungen von Lebewesen und andere Artefakte (künstlich hergestellte Gegenstände) sowie Menschen, die diese Dinge vorbeitragen

2) Welt oben, außerhalb der Höhle

a) Schatten und Spiegelbilder/Abbilder

b) Menschen, weitere Lebewesen und Gegenstände, von denen die Schatten stammen, die Dinge am Himmel und der Himmel, schließlich die Sonne

Erkenntnisstufen im Höhlengleichnis (nicht die Entsprechung und nicht genau auf den Begriff gebracht)

1) Verhaftetsein auf bloße Sinneswahrnehmung und dem Schein (es geht in der Hauptsache um das Sehen), daher mangelhaft, ohne echte erhellende Erkennntis

a) Glaube an einen (trügerischen) Anschein bei einem begrenzten und fixierten Sichtfeld (nur ein einziger, gleichbleibender Blickwinkel), das nur einen Ausschnitt (Teil des Ganzen) vor sich hat, ein Zustand der Unkenntnis/Unwissenheit

b) auf bloße Sinneswahrnehmung beschränkte Meinung, bei Möglichkeit verschiedener Blickwinkel (nicht an eine einzige Perspektive gebunden) ohne andauernde Beschränkung auf einen einzigen Ausschnitt (Teil des Ganzen)

2) Sehen, das Wissen/Erkenntnis ist

a) Sehen der Schatten und Spiegelbilder/Abbilder

b) Sehen der Dinge selbst (der Menschen, weiterer Lebewesen und Gegenstände, von denen die Schatten stammen, der Dinge am Himmel und der Himmel, schließlich der Sonne und ihres Lichtes)

Beim Höhlengleichnis gleichen die Verhältnisse im sichtbaren Bereich (der Erscheinungswelt/Sinnenwelt/empirischen Welt) denen im denkbaren, durch Vernunft einsehbaren (geistig erfaßbaren) Bereich (dies ist der Bereich der Ideen). Die Idee des Guten soll in einer entsprechenden Art zu dem verstanden werden, was für die Sonne (Sprößling/Abkömmling der Idee des Guten) gilt.

Im größeren Zusammenhang können dann die Wirklichkeitsbereiche und Erkenntnisstufen mit Bezug auf die Entsprechung (das, wofür etwas im Höhlengleichnis steht) und auf den Begriff gebracht angegeben werden.

Wirklichkeitsbereiche

1) sinnlich wahrnehmbare Welt/Erscheinungswelt/Sinnenwelt/empirischer Bereich (von Platon genannt: ὁϱατὸς τόπος [horatos topos] = sichtbarer Bereich, auch τὸ ὁϱατόν [to horaton] = das Sichtbare, ὁϱατὸν γένος [horaton genos] = sichtbare Art)

a) Abbilder von durch Sinneswahrnehmung erfahrbaren Dingen (Gegenstände/Lebewesen)

b) durch Sinneswahrnehmung erfahrbare Dinge selbst (Gegenstände/Lebewesen selbst)

2) denkbarer Bereich/geistig erfaßbarer Bereich/durch Vernunft einsehbarer Bereich/intelligible Welt/Welt der Ideen (von Platon genannt: νοητὸς τόπος [noetos topos] = denkbarer Bereich, auch τὸ νοητόν [to noeton] = das Denkbare, τὸ γνωστόν [to gnoston] = das Erkennbare, νοητὸν γένος [noeton genos] = denkbare Art)

a) mathematische Gegenstände und Formen

b) Ideen, mit der Idee des Guten an der Spitze

Erkenntnisstufen

1) Meinung (δόξα [doxa]), bloß auf Sinneswahrnehmung beruhend

a) Mutmaßung (εἰκασία [eikasia])

b) Fürwahrhalten/Überzeugung (πίστις [pistis])

2) Erkenntnis/Wissen der Vernunft (νοῦς [nous] = Vernunft, Geist, Denkkraft, Einsicht)

a) Verstand/hin- und herlaufendes (diskursives) Denken (διάνοια [dianoia])

b) einsehendes/geistig erfassendes Denken (νόησις [noesis]), mit Hilfe von begrifflichem Denken - von Platon Dialektik/dialektische Kunst genannt (Politeia 532 – 534) - Erkenntnis der Ideen

Die Wirklichkeitsbereiche und Erkenntnisstufen können auch von 1 - 4 durchgezählt werden, nämlich 1) a) = 1; 1) b) = 2) ; 2) a) = 3; 2) b) = 4).

Aus der obersten Stufe kann die Idee des Guten und die darauf bezogene Erkenntnis noch einmal als allerhöchste Stufe herausgehoben werden. Erst mit dem Sehen der Sonne (= geistige Schau der Idee des Guten) ist der Aufstieg aus der Höhle (= Befreiung von einer Beschränkung auf bloße Sinneswahrnnehmung) nach Platons Darstellung ganz vollendet.

Die Idee des Guten (ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα [he tou agathou idea]) gilt für Menschen als kaum/mit Mühe (geistig) zu schauen (Platon, Politeia 517 b – c).

Sie ist voraussetzungsloser Ursprung/Anfang (ἀνυπόϑετος ἀϱχή [anhypothetos arche] Platon, Politeia 511 b), ein unbedingtes Prinzip, das nicht auf etwas Höheres zurückgeführt werden kann.

Das Erfassen mittels der Kraft von Dialektik geht bis zum voraussetzungslosen Ursprung/Anfang des Ganzen und nach dem vollständigen Erfassen mit seinen Zusammenhängen steigt es schließlich die Ideen hindurch hinab. Der Aufstieg zur Idee des Guten geschieht über eine Erkenntnis von Ideen, in einer geistigen Zusammenschau zu einer Einheit, die ihnen gemeinsam ist und die sie ermöglicht.

Die Idee des Guten (ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα) ist nach Platons Auffassung sowohl Seinsgrund als auch Erkenntnisgrund.

Nach einer Aussage bei Platon ist die Idee des Guten kein Sein/kein Wesen/keine Seiendheit/keine wesenhafte Bestimmtheit (οὐσία [ousia]), sondern das Gute selbst liegt jenseits des Seins/des Wesens/der Seiendheit/der wesenhaften Bestimmung und übertrifft es an Alter/Würde und Kraft (οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαθοῦ, ἀλλ' ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος Platon, Politeia 509 b). Mit diesem Überragen/Übersteigen (Transzendenz) ist wohl gemeint, die Idee des Guten sei nicht Sein/Wesen/Seiendheit/wesenhafter Bestimmtheit (οὐσία [ousia]) gleichzusetzen, was aber nicht bedeutet, ihr Sein/Wesen/Seiendheit/wesenhafte Bestimmung (οὐσία [ousia]) in jeder Hinsicht abzusprechen.

Die Idee des Guten gehört einerseits zu den Ideen, ist aber andererseits auch ihre Quelle/ihr Ursprung/ihre Ursache und steht noch eine Stufe darüber. Sie ist gewissermaßen die Idee der Ideen/das Prinzip der Ideen.

es gibt wissenschaftliche Literatur zum Thema, z. B.:

Michael Erler, Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 2/2). Schwabe : Basel ; Stuttgart, 2007, S. 401 – 402

Rudolf Rehn: Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis. In: Platon-Handbuch : Leben, Werk, Wirkung. Herausgegeben von Christoph Horn, Jörn Müller und Joachim Söder. Unter Mitarbeit von Anna Schriefl und Simon Weber. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2009, S. 330 – 334