Was bedeutet ,,in stetiger geistiger Schau können wir leichter verharren als in irgendeiner Tätigkeit"?

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Das Zitat übersetzt eine Aussage des Philosophen Aristoteles in die deutsche Sprache.

Griechisch heißt der ganze Satz (Aristoteles, Nikomachische Ethik 10, 7, 1177a): θεωρεῖν τε γὰρ δυνάμεθα συνεχῶς μᾶλλον ἢ πράττειν ὁτιοῦν.

Das Adjektiv »stetig« bedeutet: über eine verhältnismäßig lange Zeit, gleichmäßig, sich ohne Unterbrechung fortsetzend, dauernd, anhaltend, kontinuierlich

Das Substantiv »Stetigkeit« bedeutet: stetige Art, stetige Beschaffenheit; Beständigkeit

Das Verb »verharren« bedeutet: in/bei etwas bleiben

Geistige Schau ist eine Schau/Betrachtung/ Untersuchung/Einsicht mittels des Geistes/der geistigen Fähigkeiten (Geist/Vernunft heißt bei Aristoteles νοῦς [nous]). Es geht ums Denken. Das Verb θεωρεῖν bedeutet: beobachten, betrachten, (an)schauen. überlegen, untersuchen, einsehen. Das dazugehörige Substantiv ist θεωρία (theoria) und bedeutet: Beobachtung/Betrachtung/Schau(en), Untersuchung, wissenschaftliche Erkenntnis, Theorie.

Was mit „Tätigkeit“ wiedergegeben wurde, ist das Ausführen/Verrichten von Handlungen. Das Verb πράττειν bedeutet: handeln, tun, tätig sein. Das dazugehörige Substantiv ist πρᾶξις (praxis) und bedeutet: Handlung, Tun, Tätigkeit, Praxis.

Es liegt das Begriffspaar »Theorie« und »Praxis« zugrunde. Aristoteles vergleicht theoretische Lebensweise und praktische Lebensweise unter dem Gesichtspunkt der Stetigkeit miteinander und stellt darin eine Überlegenheit der theoretischen Lebensweise fest. Dies ist eine Begründung (unter mehreren), warum Aristoteles der theoretischen Lebensweise in Bezug auf das Glück/die Glückseligkeit in einer Rangfolge den ersten Platz gibt, vor der praktischen Lebensweise als zweitbester Lebensweise.

Nachvollziehbar ist die Aussage, in der theoretischen Lebensweise mehr/besser/eher Stetigkeit/Beständigkeit/Dauerhaftigkeit erreichen zu können, wenn die Abhängigkeit der praktischen Lebensweise von äußeren Verhältnissen und ihrer Veränderlichkeit/Wechselhaftigkeit bedacht wird. Sie bedarf äußerer Güter und anderer Menschen (z. B. Freunde und Mitbürger) in größerem Ausmaß. Denken ist auch ohne andere Menschen und äußere Mittel möglich.

Inhaltlich knüpft Aristoteles an seine Darstellung zu Anfang des Werkes an (Nikomachische Ethik 1, 1 -3; 1, 5 – 6; 1, 8 – 13).

Aristoteles unterscheidet drei Lebensweisen, in denen Glück gesucht wird:

1) βίος θεωρητικός [bios theoretikos ]: theoretische Lebensweise (wissenschaftlich-philosophische Untersuchung/Forschung/Einsicht)

2) βίος πρακτικός [bios praktikos]: praktische Lebensweise (vor allem Handeln in einer Gemeinschaft, politische Tätigkeit)

3) βίος ἀπολαυστικός [bios apolaustikos]: Lebensweise der sinnlichen Lust und des Vergnügens

Die Lebensweisen können miteinander verbunden werden. Aristoteles nimmt in der Beurteilung eine Abstufung der einzelnen Lebensweisen nach ihrem Wert/ihrer Vorzüglichkeit vor.

Albrecht  10.11.2015, 07:05

Übersetzungen des Anfangs von Aristoteles, Nikomachische Ethik 10, 7 (Argumente, warum er der theoretischen Leebnsweise einen Vorrang gibt; weitere Argumente folgen danach noch):

Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Übersetzt von Olof Gigon. Neu herausgegeben von Rainer Nickel. Düsseldorf ; Zürich : Artemis & Winkler, 2005 (Bibliothek der alten Welt), S. 224 – 225:  

„7. Ist aber die Glückseligkeit eine der Tugend gemäße Tätigkeit, so muß sie natürlich der vorzüglichsten Tätigkeit gemäß sein, und diese ist wieder die Tugend des Besten in uns. Mag das die Vernunft oder etwas anderes sein, was seiner Natur nach als das Herrschende und Leitende auftritt und das Gute und Göttliche zu erkennen vermag, sei es selbst auch göttlich oder das Göttliche in uns: immer wird die seiner eigentümlichen Tugend gemäße Tätigkeit vollendete Glückseligkeit sein. Daß diese Tätigkeit eine betrachtende ist, haben wir bereits gesagt. Man sieht aber auch, daß dies mit unseren früheren Ausführungen wie mit der Wahrheit übereinstimmt. Denn zunächst ist diese Tätigkeit die vornehmste. Die Vernunft nämlich ist das Vornehmste in uns und die Objekte der Vernunft sind wieder die vornehmsten im ganzen Bereich der Erkenntnis. Sodann ist sie die anhaltendste. Anhaltend denken können wir leichter als irgend etwas anderes anhaltend tun.“

Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzt und erläutert von Franz Dirlmeier. 10., gegenüber der 6., durchgesehenen, unveränderte Auflage. Berlin : Akademie-Verlag, 1999 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, herausgegeben von Hellmut Flashar ; Band 6), S. 230:  

„7. Wenn das Glück ein Tätig-Sein im Sinne der Trefflichkeit ist, so darf darunter mit gutem Grund die höchste Trefflichkeit verstanden werden: das aber kann nur die der obersten Kraft in uns sein. Mag nun der Geist oder etwas anderes diese Kraft sein, die man sich gewiß als wesenhaft herrschend, führend, auf edle und göttliche Gegenstände gerichtet vorstellt - mag diese Kraft selbst auch göttlich oder von dem, was in uns ist, das göttlichste Element sein - das Wirken dieser Kraft gemäß der ihr eigentümlichen Trefflichkeit ist jedenfalls das vollendete Glück. Daß dieses Wirken aber ein geistiges Schauen ist, haben wir bereits festgestellt.

Das ist in Übereinstimmung, so dürfen wir behaupten, mit unseren früheren Erkenntnissen und mit der Wahrheit. Denn einmal ist das die oberste Form menschlichen Wirkens: es hat ja auch der Geist von dem, was in uns ist, den obersten Rang, und obersten Rang unter den Erkenntnisobjekten haben die des Geistes. Sodann aber hat dieses Wirken auch die größte Stetigkeit, denn in stetiger geistiger Schau können wir leichter verharren als in irgendeiner Tätigkeit (nach außen).“

Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. Originalausgabe. 4. Auflage. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 2013 (Rowohlts Enzyklopädie ; 55651), S. 328:  

„(1.) Wenn das Glück ein Leben in der Betätigung des Gutseins (kat' aretēn energeia) ist, dann liegt es nahe, dass es sich um die Tätigkeit im Sinn der höchsten (kratistos) Gutheit handelt. Diese aber wird die Gutheit des Besten (aristos) sein. Mag das also das intuitive Denken (nous) oder etwas anderes sein, von dem man annimmt, dass es seiner Natur nach herrscht, führt und eine Vorstellung von den werthaften (kalos) und göttlichen Dingen hat; mag es selbst etwas Göttliches sein oder das göttlichste der Dinge in uns – seine Tätigkeit im Sinn der ihm eigenen Gutheit wird das vollkommene Glück (teleia eudaimonia) sein. Dass diese Tätigkeit eine betrachtende (theōrētikē) ist, wurde gesagt.

(2.) Das dürfte sowohl mit dem früher Gesagten wie mit der Wahrheit übereinstimmen. (a) Denn erstens: Diese Tätigkeit ist die höchste, wie auch ein intuitives Denken (nous) das Höchste in uns ist und seine Gegenstände die höchsten unter den erkennbaren Dingen sind. (b) Ferner: Sie ist die kontinuierlichste Tätigkeit, da wir eher kontinuierlich betrachten können als irgendeine andere Tätigkeit (praxis) verrichten.“

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