Sind Gefühle angeboren und veränderbar?

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Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Ich beziehe mich in der Folge ausschliesslich auf das Thema "Lieblingsfarbe". Das ist auch schwieriger als das Thema "Homosexualität", bei dem es eindeutig angeboren ist. :-)

Das ist nun eine hochkomplexe Frage, für die es aus fachlicher Sicht noch keine klare Antwort gibt. Ich werde also einige Ansätze vorstellen, die diskutiert werden, und werde meine eigene Meinung zum Besten geben.

  1. Die "Tabula rasa"-Theorie

1.1. Einleitung

"Tabula rasa" ist Latein und bedeutet "leergefegter Tisch".

Die "Tabula rasa"-Theorie vermutet, dass wir alle wie ein "leergefegter Tisch" auf die Welt kommen, also ausser unser Geschlecht und ein paar grundlegende Reflexe nichts festgelegt ist. Erst im Laufe unserer Entwicklung "stellen" wir verschiedene Dinge auf unseren "Tisch", bis wir eine individuelle Zusammensetzung von Dingen in einer individuellen Anordnung darauf haben.

Meine Neurophysiologie-Professorin vertrat diese Theorie. Sie war fest überzeugt, dass sich unsere Vorlieben und Eigenschaften im Laufe der frühen Kindheit zusammensetzen.

Dies könnte nun auf verschiedene Art und Weise geschehen, und wir wollen einige Beispiele erörtern.

1.2. Die einfachste Erklärung: Prägende Kindheitserlebnisse

Die allereinfachste Erklärung, warum wir eine Lieblingsfarbe haben, könnte darin bestehen, dass wir einfach als Kind ein Bettchen in der Farbe hatten oder ein Spielzeug. Vielleicht war unser Lieblingsstrampler rot oder der Schnuller, das Mobile über dem Kinderbettchen oder unser Lieblingsplüschtier.

Das ist eine sehr einfache Erklärung, die auch leicht überprüfbar ist.

Das Problem ist nur: Was, wenn unsere Lieblingsfarbe gar nicht prominent in unserer Kindheit vorkam? Was, wenn der Schnuller grün, der Lieblingsstrampler blau, das Plüschtier braun und das Mobile bunt war?

Dann fällt die Theorie ins Wasser und wir müssen nach anderen Erklärungen suchen.

1.3. Der "Chaining"-Ansatz

"Chaining" bedeutet in der Psychologie, dass verschiedene Reize in einer "Kette" aneinandergereiht im längeren Verlauf zu einer bestimmten neurophysiologischen Reaktion führen.

In diesem Szenario hat ein Baby also ganz verschiedene Farben in seinem Blickfeld, die alle mit positiven Emotionen verbunden sind, ohne dass eine hervorsticht. Nehmen wir an, dass darunter auch Rot ist.

Nun kann es sein, dass durch Zufall im Verlaufe des Babylebens die Farben zwar immer wieder wechseln (was bestimmt der Realität entspricht), dass aber zufälligerweise von allen Farben immer Rot dabei ist.

Der Schnuller ist zwar Grün, hat aber rote Punkte oder eine rote Kette. Das Plüschtier ist zwar braun, hat aber eine rote Nase. Das Mobile hat unter vielen Farben auch Rot dabei.

Das würde allerdings nicht reichen. Im weiteren Verlauf müsste immer wieder die Farbe Rot in entscheidenden Momenten vorkommen. Vielleicht trägt Mama gerade ein rotes Kleid, wenn das Baby das erste Mal lächelt und die zwei einen besonderen Moment miteinander haben, der sich auch beim Baby einprägt.

Vielleicht hängt gerade da, wo das Kleinkind sitzt, an der gegenüberliegenden Wand ein Bild mit einem roten Luftballon drauf, und das Kind sieht es immer genau dann, wenn Papa nach Hause kommt.

Und so weiter und so fort. Dies ist die Art, wie meine Neurophysiologie-Professorin glaubte, dass durch winzige Zufälle in unserem Alltag als Kinder Vorlieben und Präferenzen (aber natürlich im selben Muster auch Abneigungen) entstehen.

2. Angeborene individuelle Unterschiede

2.1. Einleitung

Ich halte die "Tabula rasa"-Theorie in ihrer Reinform für unwahrscheinlich. Wir sind keine Roboter, die im Laufe des Lebens programmiert werden. Wir sind bereits im Mutterleib Individuen, die natürlich auch durch Erfahrungen geprägt werden - aber alle diese Erfahrungen werden bereits durch unsere Individualität beeinflusst.

Ich führe nun aus, wie das allenfalls aussehen kann.

2.2. Individuelle neurophysiologische Strukturen

Damit wir Farben sehen können, brauchen wir Zapfen in der Netzhaut, eine Retina im Augapfel, welche die visuellen Reize "vorsortiert", einen Sehnerv, welcher die Reize zum Thalamus führt, im Thalamus werden die visuellen Reize mit den Eindrücken aller anderer Sinnesorgane angeglichen, dann wir das ganze zur Sehrinde im Hinterkopf geleitet, dort wieder aufgesplittert, an die "Farbsäulen" weitergegeben und dann immer weiter verarbeitet, bis wir einen Sinneseindruck erhalten, den wir dann "Rot" nennen.

Jetzt stellt euch vor, dass jede dieser Stationen gewisse individuelle Eigenschaften hätte - kleine Abweichungen, die sich auch dann ergeben würden, wenn wir ansonsten von der "Tabula rasa"-Theorie ausgehen würden. Denn ausser eineiigen Zwillingen ist ja kein Mensch exakt gleich wie der andere!

Die Folge davon wäre, dass jeder von uns ein klein bisschen etwas anderes erlebt, wenn er die Farbe Rot sieht. Unsere Erlebnisse sind also von Anfang an nicht deckungsgleich - und beeinflussen, wie wir eine Farbe wahrnehmen und sogar, wie wir sie mit anderen Eindrücken verknüpfen.

2.3. Neurophysiologische Erregbarkeit

Nochmals ein anderer Unterschied kann sich ergeben, wenn wir das gesamte neuronale Netzwerk betrachten und nicht nur das Sehen.

Da gibt es nun zum Beispiel Studien, welche ergeben haben, dass rotes Licht die Empfindlichkeit der Haut erhöht - also nicht nur ein Seh-Erlebnis hervorruft, sondern auch einen Einfluss auf unser Körperempfinden hat.

Es ist nun natürlich wiederum an unzählige angeborene und erworbene Faktoren geknüpft, wie wir eine solche erhöhte Empfindlichkeit unserer Haut erleben. Finden wir das angenehm? Dann finden wir wohl Rot eine schöne Farbe. Fühlen wir uns dadurch eher überempfindlich oder sogar verletzlich? Dann werden wir wohl Rot eher keine angenehme Farbe finden.

Und dann brauchen wir einen Vergleich mit anderen Farben, die alle ebenfalls einen Einfluss auf unser Gesamterleben haben, und die alle ebenfalls durch angeborene und erworbene Faktoren als angenehm oder nicht so angenehm empfunden werden können.

Und vermutlich wählen wir dann am Ende aus allen diesen Möglichkeiten eben jene aus, die in ihrer Gesamtheit als am angenehmsten im Vergleich zu den anderen Farben empfinden wird.

3. Bewusste Entscheidung

Aber selbst das kann im Einzelfall nicht zutreffen, so bestechend diese Erklärung auch sein kann.

Ein Mensch kann auch ganz einfach eine Entscheidung treffen. "Mein erstes Auto war rot, deshalb ist das meine Lieblingsfarbe!" - Ende der Diskussion!

Wir können also auch einfach eine Wahl treffen auf der Basis einer bewussten Entscheidung. Vermutlich werden wir sie nicht gegen alle anderen Aspekte, die ich aufgeführt habe, fällen - aber zumindest werden wir eine Farbe auswählen, die aus allen möglichen Farben, die wir mindestens nicht unangenehm finden, für uns in Frage kommt.

***

Mir ist bewusst, dass das ein sehr langer Text geworden ist, ich hoffe aber trotzdem, dass er lesenswert ist. :-)

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung
IsaJea 
Fragesteller
 24.04.2024, 18:32

Danke LastDayofEden für diese ausführliche Erklärung und Ideen.

Ich finde die Erklärungen alle in sich schlüssig und interressant.

Ohne zu Wissen was richtig ist, finde ich den 2. Ansatz richtig gut.

Ansatz 1 mit der Tabula rasa idee hat sicher ihre Berechtigung auch weiter hinterfragt zu werden.

Ansatz 3 finde ich Ok, allerdings frage ich mich da, hat das Baby/Kind schon die bewusste Entscheidung rot ist meine Lieblingsfrabe?
Ich will das auf keinen Fall verneinen. Warum soll dem nicht so sein. Ich weiß es nicht.

Ich finde es spannend falls wir wirklich erfahren was herauskommt, was der wahrscheinlichste Ansatz ist.

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LastDayofEden  24.04.2024, 19:04
@IsaJea

Danke für die Rückmeldung. :-)

Ja, ich denke auch, dass die Erklärung 2 eine sehr wahrscheinliche und fast unbestreitbare Grundlage darstellt. Die Prozesse aus Erklärung 1 werden dann dazukommen, und Erklärung 3 kann stattfinden oder auch nicht.

Ein Baby aber fällt sicher keine solche bewusste Entscheidung. Das wäre dann eher im späteren Alter.

Und was wir nicht vergessen dürfen: Lieblingsfarben können sich auch ändern. Als Kind hatte ich als Lieblingsfarbe Blau - ich weiss nicht warum, aber es gab eine prägende Person in meinem Umfeld, die als Lieblingsfarbe Blau hatte, und das fand ich als Kind cool und deshalb habe ich das übernommen.

Das war also vielleicht oder vielleicht auch nicht Erklärung 3.

Unterdessen finde ich sehr viele Farben schön, aber es kommt oft auf den genauen Farbton oder auch auf die Kombination an. Feuerrot finde ich zum Beispiel furchtbar, aber Bordeauxrot finde ich wunderschön. Türkis finde ich eine tolle Farbe, aber zusammen mit bestimmten Brauntönen grauenhaft.

Ich wäre wohl der Alptraum jedes Neurologen, der die Hintergründe von Lieblingsfarben untersucht. 🤣

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IsaJea 
Fragesteller
 24.04.2024, 19:17
@LastDayofEden

Was ich wieder mal feststelle, wir wissen, das wir nichts wissen.
Wobei ich das nicht als negative Aussage sehe sondern die positive Aufforderung zu forschen, zu hinterfragen.

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LastDayofEden  24.04.2024, 19:22
@IsaJea

Das Leben bleibt eben spannend. Und wir können es immer neu entdecken gehen. 🤗

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Einige sind angeboren und nicht veränderbar. Andere kann man verstärken und wieder andere kann man erzeugen. Man kann aus einem fröhlichen, friedlichen Kind mit der falschen Erziehung ein blutrünstiges Monster machen. Ebenso kann Macht die Menschen korrumpieren und so Gefühle ans Licht bringen, die man sich selbst noch nicht einmal vorstellen konnte. .

Zu unterscheiden ist zwischen: Erstens Basis- oder Primäremotionen und Gefühlen, die auf angeborenen Repräsentationen bestimmter Eigenschaften eines Reizes, zum Beispiel einer bestimmten Bewegung, Größe, Lautstärke oder Unvermitteltheit und nicht auf kategorialen semantischen Repräsentationen beruhen. Zweitens kulturell, kognitiv-intrinsischen Sekundäremotionen, die auf erlernten, erfahrenen und internalisierten Repräsentationen basieren und mit bestimmten Komponenten einer oder mehrerer primärer Emotionen gekoppelt sind.

Teilweise entwickeln oder stärken sich Gefühle mit vortschreitendem alter. Die meisten Gefühle entwickeln sich wahrscheinlich im Kindesalter. (Bin kein Experte... Verbessert mich gerne, falls ich falsch liege.)

Bei dem ersten Beispiel wäre ich mir nicht sicher.

Thema sexuelle Orientierung: sie ist wohl größtenteils tatsächlich angeboren.

Bis jetzt sind noch keine endgültigen und genauen Ursachen für die Entstehung von nicht heterosexuellen Verhalten identifiziert. Trotzdem gibt es einige Evidenzen für Einflüsse, die eine Rolle bei der Entwicklung davon spielen. Generell geht man momentan davon aus, dass es ein komplexes Zusammenspiel von biologischen als auch umweltbedingten/ sozialen Faktoren ist. Wobei den biologischen Faktoren eine größere Rolle zugedacht wird als den sozialen (siehe „Vergleich biologischer und sozialer Einflüsse“).
[...]
Es gibt viele Befunde, die die Wichtigkeit von biologischen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der sexuellen Orientierung betonen. Dabei geht man von drei hauptsächlichen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der sexuellen Orientierung aus, nämlich:
Gene/Erblichkeit
Gehirnentwicklung
(pränatale) Hormone und chemische Substanzen
Es gibt wohl nicht den einen Faktor, der die sexuelle Orientierung eines Menschen bestimmt, sondern sie entwickelt sich durch ein komplexes Zusammenspiel dieser biologischen Einflüsse gemeinsam mit umweltbedingten Faktoren.[31]
Allerdings gibt es mehr Evidenzen für die Unterstützung einer biologischen Ursachenhypothese, als für soziale Ursachen.
[...]
Anatomische Unterschiede im Gehirn zeigen Zusammenhänge (Korrelationen) mit der sexuellen Orientierung bei Säugetieren, einschließlich des Menschen. Diese Unterschiede bilden sich bereits in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft heraus.

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Sexuelle_Orientierung

Auch Transidentität ist angeboren.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Teil der LGBTQ+ Community