Perfekt und Plusquamperfekt in Latein?

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Die indogermanische Ursprache, von der Latein, Deutsch, Saṁskr̥t, Russisch und vie­le wei­tere abstammen, hatte drei Zeiten. Ich bezeichne sie hier einfacherweise als Prä­­sens, Aorist und Perfekt. Es gab auch ein Imperfekt und vmtl. ein Plusquam­per­fekt, das waren aber keine Zeiten, sondern Moden (so wie Konjunktiv, Optativ und Im­pe­ra­­tiv) und ge­hörten zum Präsens bzw. Perfekt. Außerdem gab es zu Präsens und Ao­rist ein Pas­siv (oder Medium), aber nicht zum Perfekt, weil das immer intrans­i­tiv ge­­braucht wur­de (es beschrieb nicht Handlungen sondern Zustände). Alle Zeiten waren synthetisch (also mit Endungen etc. gebildet), nicht analytisch (mit Hilfverb).

Jede der drei Zeiten wurde von einem unterschiedlichen Verbalstamm gebildet. In ei­ner Zeit war der Stamm simpel, und in den anderen kamen dann irgendwelche Kenn­zeichen dazu (z.B. i oder n im Präsens, s im Aorist, oder allgemein Vokalwechsel). Das Perfekt hatte immer eine Reduplikation. Das ist sehr vereinfacht.

Alle Tochtersprachen haben das System sehr stark umgebaut. In jeder Tochter­sprache kam ein Futur dazu, das meist von einem Konjunktiv abgeleitet war (weil der ja für unklare oder zweifelhafte Dinge verwendet wird, und die Zukunft ist immer unklar und zweifelhaft). Was sie sonst noch gemacht haben, ist unterschiedlich.

Das Altgriechische hat alle drei Zeiten weitergeführt und ein neues Futur erfunden, so daß es insgesamt 4 Zeiten hatte. Außerdem erfand es neue Formen für ein pas­si­ves Per­­fekt (und auch ein Perfektfutur, das aber selten ist). Insgesamt kann man zu ei­nem alt­grie­chischen Verb weit über 300 finite Formen bilden, und die Zahl steigt auf 500, wenn man auch die Partizipien und alle ihre deklinierten Formen mitzählt.

Das Neugriechische hat das System völlig umgebaut. Die alten Konjunktiv- und Optativformen wurden aufgegeben und das Perfekt abgeschafft. Stattdessen gibt es ein zweidimensionales System nach den Kategorien Gegenwart/Vergangenheit und an­dauernd/abgeschlossen. Die Formen des andauernden Aspekts kommen aus dem alten Präsens (und Imperfekt), die des abgeschlossenen Aspekts kommen aus dem Futur und Aorist. Futur und Konjunktive werden umschrieben, aber es gibt voll aus­gebil­dete Passivformen, die aus dem Altgriechischen übernommen wurden. Da­zu gibt es noch eine Art neues Perfekt, gebildet aus haben plus Infinitiv.

Im Latein lief es anders. Es erfand außer dem Futur noch einen Konjunktiv zum Im­per­fekt und gliederte all das in die Präsenszeiten ein; analog wurde das Plus­quam­per­­fekt mit einem Konjunktiv ausgerüstet und das Futur exakt erfunden. Der Aorist wur­de aufgegeben (teilweise lieferte er aber die Perfektstämme). Somit hatte die Spra­­che eine beachtliche innere Symmetrie: Zwei Zeiten (Präsens und Perfekt) mit ge­nau par­alle­len Unterabteilungen. Andererseits erfanden die Lateiner keine pas­si­ven Per­fekt­for­men, sondern umschrieben das mit dem Partizip plus esse.

Die romanischen Sprachen, die sich im 1 Jt. aus dem Latein entwickelten, bauten das System nochmals um. Ich kann hier nur fürs Italienische sprechen, aber in an­de­ren könnte es ähnlich sein. Einerseits wurden neue Futur- und Konditional­formen er­fun­den (die Endungen ergeben sich aus Formen von avere ‘haben’), andererseits wur­­den die deut­schen Formen für eine neuartiges „Perfekt“ aus sein/haben+Partizip über­nom­men und daraus neue Zeiten gebildet. Somit hat Italienisch die Zweiteilung zwi­schen Prä­sens- und Perfektstamm aufgegeben, neues Zeug erfunden und ins­ge­samt ei­ne un­glaub­liche Vielfalt an Zeiten:

  • ein Präsens dice ‘er sagt’, auch als Konjunktiv dica
  • ein Imperfekt diceva, auch als Konjunktiv dicesse (gebildet vom Präsensstamm)
  • ein Futur dirà; dazu gibt es keinen Konjunktiv aber einen Konditional direbbe
  • das lat. Perfekt wird als disse weitergeführt (keine weiteren Formen)
  • das deutsche „Perfekt“ wird als ha detto übernommen, dazu abbia detto als Konj.
  • dazu geht auch ein Plusquamperfekt aveva detto, mit Konjunktiv avesse detto
  • da das lateinische Plusquamperfekt aufgegeben wurde, kann man zum latei­ni­schen Perfekt ein Plusquamperfekt nach deutschem Muster bilden: ebbe detto
  • und zum deutschen Perfekt gibt es noch ein Futur avrà detto, Kond. avrebbe detto

Andererseits hat Italienisch die Passivformen vollständig abgeschafft und bildet nur ein umschriebenes Passiv.

Die germanische Sprachen haben aus dem Indogermanischen nur Präsens und Per­fekt beibehalten (das idg. Perfekt heißt im Deutschen Präteritum, weil der Name Per­fekt für etwas anderes gebraucht wird). Das deutsche Präteritum führt also das idg. Perfekt fort, aber mit so vielen Neuerungen, daß man das nur schwer sieht.

Innerhalb des Frühdeutschen entstand dann ein Futur (gebildet durch Umschreibung mit wollen, später werden) und ein neues Perfekt, das sich als Exportschlager erwies und in vie­le romanische und germanische Sprachen Eingang fand. Aus Sätzen wie „Ich be­sitze ein gebautes Haus“ wurde mit ein paar Zwischenstufen „Ich habe ein Haus ge­baut“. Diese Innovation kam aus dem Süden (Alpen), aber da in Deutsch­land al­les mit regionalem Proporz funktioniert, steuerten die Niederdeutschen die Va­ri­an­te mit sein bei (ich bin eingeschlafen), und bis heute werden für viele Verben im Nor­den und Sü­den unterschiedliche Hilfsverben benutzt.

Du siehst also, daß es einen generellen Trend gibt, neue Zeiten mit Hilfsverben (ana­ly­tisch) zu bilden, während die synthetisch (mit Endungen etc) gebildeten Zeiten eher aus­sterben. Aber unser Präteritum ist (als idg. Perfekt) 5000+ Jahre alt, und manch­mal werden auch neue synthetische Formen gebildet, wie z.B. das italienische Futur. Im Italienischen (und auch Französischen) hat man sogar parallel ein aus dem La­tei­ni­schen ererbtes synthetisches Perfekt (passato remoto) und ein nach deutschem Muster analytisch gebildetes Perfekt (passato prossimo).

Woher ich das weiß:Hobby – Angelesenes Wissen über Sprach­geschich­te und Grammatik
Licorne123 
Fragesteller
 16.07.2020, 15:59

Vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Sie hat mir sehr weitergeholfen 😊

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Ich bin jetzt kein Philologe oder gar akademisch zertifizierter Sprachwissenschaftler, hier nur meine Gedanken:

Diese Zusammensetzungen mit Hilfsverb sind modern. In den ganz alten Sprachen (teilweise heute noch z.B. im Finnischen) wird im Wort gerne "agglutiniert", also mit Affixen, Suffixen und Präfixen hinten und vorne, oder gar in der Mitte angebaut.

Diese im Deutschen übliche Trennung in Infinitiv und Hilfsverb setzt schon ein höheres Verständnis der Sprache voraus, die am Anfang noch nicht vorhanden war. Teilweise ist es auch "objektivisch", z.B. Ich habe gegessen, also ich habe etwas, habe einen Zustand, oder ich bin gegangen ist adjektivisch, ich bin etwas, nämlich "gegangen" - das ist eine andere Sprachentwicklung, in Deutschland erst mit dem Althochdeutschen ab ca. 750, dann waren meines Wissens sein und haben als Perfektkomponenten erstmals nachweisbar.

Als Beispiel für die Sprachentwicklung jetzt etwas aus der modernen deutschen Sprache, aber (sprachgeschichtlich falsch) rückbezogen auf die Sprachbildung am Anfang: Z.B. hat man "am Anfang" einfach z.B. "gehen" gesagt. Um auszudrücken, dass Du gehst (und nicht ich), wurde am Ende noch ein Zischlaut "st" rangeklatscht, dieser Zischlaut hat dann diese Klarstellung gebracht, quasi "gehen Du" zu "gehst" (schlechtes Beispiel, vielleicht besser: Endung -mus zu nos im Lateinischen). Diese Logik hat wohl bei dem Wort "sein" nicht funktioniert (da man beim Sein anfangs nicht vom Infinitiv dachte), deswegen ist sein in so ziemlich allen Sprachen unregelmäßig in der Konjugation, anders als "haben".

Entsprechend beim Perfekt. Man nahm das Verb und wollte einen Aspekt mit ausdrücken. Also wurde dem Verb noch ein Laut ergänzt, welche diesen Aspekt ausdrücken sollte, was dann zum Perfektstamm führt, aber im Prinzip ist es eine Ergänzung. Hinten kam dann noch weiterer Laut, um die Person auszudrücken (die dann ähnlich ist zum präsentischen).

Andere romanische Sprachen, z.B. Französisch, Spanisch, Italienisch: Hier trat ganz klar die neue Entwicklung zum Hilfsverb mit dazu, anders z.B. im spanischen indefinido: Da sieht man noch die lateinischen Perfektstämme!

Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass man sich von dem Zusammensetzen im Wort in der Sprache wegbewegt hat in eine Zusammensetzung kleinerer Wörter im Satz, welche dann die Aspekte, Tempora etc. ausdrücken.

Bei Sprachen kann man nicht nach dem Warum fragen.
Sie haben sich halt so entwickelt.
Es reicht ja noch weiter: Deutsch bildet alle Tempora außer Präsens und Präteritum mit Hilfsverben, wobei "werden" noch eine Doppelrolle hat: Futur und das ganze Passiv.

Das ist nämlich echt kompliziert für alle, die Deutsch lernen
-- einschließlich vieler Deutscher ...

Du kannst froh sein, dass in Latein nur die Vollendeten Zeiten des Passivs zusammengesetzt sind; alle anderen bestehen nur aus einem Stamm und durchgehend gültigen Endungen.

Man muss die Tempora (Zeiten) aber auch erkennen können. Bei der deutschen Grammatik allerdings hapert es bei vielen.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Unterricht - ohne Schulbetrieb