Ist Scharnhorst in Dortmund ein gefährlicher Stadtteil?

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„Scharnhorst-Zentrum. Umsteigemöglichkeiten zu den Buslinien. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts!“. Diese Ansage in der Stadtbahnlinie U 42 wirkt auf manche Menschen in Dortmund fast wie eine Bedrohung. Ältere Frauen drücken die Handtasche noch ein wenig fester an den Körper; jüngere kontrollieren instinktiv den Sitz ihres Handys. Soweit das eine Bild von Dortmund-Scharnhorst, einem der bekanntesten deutschen Trabantenvororte. Wer aber hier lebt, wer einer der knapp 13.000 Einwohner von Scharnhorst-Ost ist, für den bedeutet die Durchsage das angenehme Gefühl, „nach Hause“ zu kommen.
Drei Männer stehen vor dem Kiosk. Michael Wintersehl begrüßt die ersten beiden mit Handschlag. Man kennt sich. Doch der dritte wird plötzlich unruhig, als er das Mikrofon sieht. In den achtziger und neunziger Jahren galt Scharnhorst als Hochburg der Kriminalität, als Problemviertel, als sozialer Brennpunkt. Vandalismus, Diebstahl, Drogen: Jugendgangs verschiedener Nationalitäten versuchten, den Stadtteil zu terrorisieren. Selbst die Polizeiautos vor der Wache wurden mehrfach beschädigt, die Beamten persönlich attackiert. Daraufhin änderte die Polizei ihre Strategie. Die Wache wurde personell deutlich verstärkt. Und es gibt seitdem unangekündigte Sondereinsätze. „Präsenzkonzept“ nennt Michael Wintersehl das: Uniform zeigen, dunkle Ecken ausleuchten.
„Es ist uns durchaus gelungen, innerhalb der zwei Jahre, in denen wir das Präsenzkonzept jetzt hier betreiben, die Fallzahlen deutlich gesenkt haben und auch das Sicherheitsgefühl des Bürgers – worauf es uns natürlich auch drauf ankommt – deutlich gesteigert haben.“
Ein Gefühl des Unwohlseins und der Unsicherheit
Ist das wirklich so? Fühlen sich die Scharnhorsterinnen und Scharnhorster wirklich „sicherer“ in ihrem Quartier? Das eks – das Einkaufszentrum liegt mitten im Ort. Viele ältere Menschen sind jetzt – gegen Mittag – hier unterwegs. Gisela Kluge sitzt mit ihrer Freundin Angelika Pieper vor der Eisdiele Cordella. Sie ist Mieterin der ersten Stunde.
„Am Anfang war es, fand ich, schöner hier. Es ist mittlerweile, ich weiß es nicht, einfach überfremdet. Die Kultur ist eine andere geworden. Man ist rücksichtlos gegenüber der Allgemeinheit. Dann wird der Müll liegengelassen…“
Sie wohnen immer noch gerne hier, betonen beide, aber es bleibe dieses unbeschreibliche Gefühl.
„Dieses Gefühl, abends im Dunkeln alleine nach Hause zu gehen, das hat sich geändert. Ich kann es noch nicht mal richtig begründen, aber: es ist so!“
Sie reden von Kultur, von Gefühlen und Atmosphäre – aber nicht von der Architektur ihrer Siedlung. Die stellen sie nicht infrage. Es sind eben für sie diese „Big Beautiful Buildings“, zwischen denen aber dennoch genügend Raum ist, um eine diffuse Form von Angst zu erzeugen.
Scharnhorst und viele ähnliche Stadtviertel in Deutschland galten lange als „Irrweg“ der Stadtplanung. Deshalb lohne es, hier genau hinzuschauen, welche Fehler damals gemacht wurden, sagt Raumplanerin Christa Reicher, aber vor allem, welche Potenziale solche Siedlungsformen haben. Sie jedenfalls ist dagegen, Groß-Siedlungen pauschal abzulehnen.
„Wir sehen bei vielen dieser Großsiedlungen dieses Empfinden: ‚Wie erlebe ich den Raum?‘, nicht ausreichend gewürdigt oder bedacht ist. Ein zweites Thema ist sicher die Nutzung und die Nutzungsmischung. Wir müssen darauf achten, dass wir auch gerade die Erdgeschosse beleben mit unterschiedlichen Nutzungen. Und, was man nicht unterschätzen darf, ist das Thema der Pflege, der Instandhaltung von solchen Bauten. Die brauchen einen Kümmerer, der sich darum bemüht, Nachbarschaft zu unterstützen, den öffentlichen Raum zu pflegen und auch den Blick auf Leerstand zu haben.“
Das soziale Engagement der Wohnungsgesellschaften
Eine Aufgabe für die Wohnungsgesellschaften. Zweistellige Millionenbeträge haben sie im Laufe der Jahre in die Sanierung ihrer Gebäude in Scharnhorst gesteckt. Vor allem in Äußerlichkeiten: bunte Anstriche, aufgelockerte Fassaden und Eingänge.
2004 haben drei Wohnungsgesellschaften mit der Stadt Dortmund eine Arbeitsgemeinschaft gegründet. Es sollte mehr für die Mieter getan werden: viele Einzelaktionen und Langzeitprojekte wurden seitdem gestartet: Ferienspiele, Künstlerwerkstätten, Stromspar-Partys, Pflanzaktionen, Balkon-Wettbewerbe und, und, und… Besonders Kinder und Jugendliche habe man im Blick, sagt Andrea Kisters von der Gesellschaft LEG Wohnen.
„Beispielsweise Gewaltprävention: wir haben hier sogenannte Sprayer-Lehrgänge, um auch die Jugendlichen abzuholen was Vandalismus anbelangt. Wir haben Anti-Gewalt-Training, was wir an den Schulen unterstützen. Es gibt ganz, ganz viele Maßnahmen, die hier in die Wege geleitet worden sind. Ja, wir denken, es tut dem Stadtteil wirklich gut.“
Ergebnis: zehn Prozent der Menschen leben mittlerweile länger als 30 Jahre hier. In Scharnhorst ist derzeit praktisch keine Wohnung zu kriegen. Niemand will weg; die Älteren nicht, weil sie fast ihr ganzes Leben schon hier leben. Und die Jüngeren, weil sie häufig keine Alternative haben. In Dortmund wird Wohnraum immer knapper. Die Nachfrage steigt schneller als neu gebaut werden kann.

https://www.deutschlandfunk.de/hochhaus-siedlung-dortmund-scharnhorst-vom-problembezirk-100.html