Hallo, kann mir jemand helfen diese Karikatur von Otto von Bismarck zu interpretieren?

1 Antwort

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Die Karikatur betrifft das Gebiet von Bismarcks Sozialpolitik. Otto von Bismarck versuchte als Reichskanzler mit sozialpolitischen Maßnahmen eine stärkere Bindung der sozial Schwachen, vor allem der Arbeiterschaft, an den Staat herzustellen. Dabei war die Einführung von Sozialversicherungen ein wesentliches Mittel.

Bismarck wollte außerdem gerne eine Reichseisenbahn, was sich allerdings nicht verwirklichen ließ (die einzelnen Bundestaaten behielten weitgehend die Hoheitsrechte über die Eisenbahn). In Preußen hat es aber zunehmend eine Verstaatlichung der Eisenbahn gegeben.

Die Karikatur nimmt vor allem Bezug auf die bisher nicht verwirklichte Unfallversicherung.

Auf einem Hügel (etwas Gras und ein paar Blumen wachsen auf ihm) ist in einer offenen Landschaft vor dem Hintergrund eines bewölkten Himmels ein Gebäude teilweise aufgebaut, aber noch nicht fertiggestellt. Es hat einen Baustil wie ein antiker Tempel mit Kuppel. Die auf einem Sockel stehenden Säulen haben alle ein ionisches Kapitell (Kopfstück/oberer Abschluss einer Säule; kennzeichnend sind die Voluten [schneckenförmiges eingerollte Verzierungen]). Auf der Kuppel stehen die Aufschriften „Patrimonium der Enterbten“, „Staats-Socialismus“ und „Social-Politik“.

Sichtbare Aufschriften von Säulen sind: „Kranken-Versicherung“, „Unfall-Versicherung“, „Invaliden-Versicherung“, „Verstaatlichung d.[er] Eisenbahn“.

Ein staatliches Tabakmonopol zur Gewinnung von Mitteln zur Finanzierung von Sozialgesetzgebung ist damals als „Patrimonium [väterliches Erbgut] der Enterbten“ bezeichnet worden. Bismarck selbst und einige Zeitgenossen haben einige geplante Maßnahmen zur Sozialpolitik und Stärkung des Staates als „Staatssozialismus“ bezeichnet.

Bismarcks Pläne werden wie das Errichten eines Bauwerks dargestellt, gedacht als schönes hochragendes Monument. Es ist aber nur teilweise durchgeführt, es fehlt noch etwas, an der Kuppel sind Risse bemerkbar, nicht alle Säulen stehen gerade. Die Sache ist noch wackelig und bedarf der Abstützung und Weiterführung.

Zwei Männer bemühen sich, die Säule „Unfall-Versicherung“ an eine passende Stelle zu bringen, haben aber offenbar große Schwierigkeiten mit dem Schleppen, Heben und genau passendem Einfügen des schweren Bauteils. Der vor dem Sockel stehende Mann ist der Aufschrift „Bödiker“ nach Tonio Bödiker, ein hoher Beamter im Reichsamt des Inneren (Innenministerium), der andere könnte ein weiterer Beamter sein. Bismarck stützt in Schräglage mit seiner linken Hand die Säule „Kranken-Versicherung“ ab. Ein Mann mit Kappe und der Aufschrift „Anti-Semiten“ stützt ihn in Schräglage. Mit ausgestrecktem Zeigefinder seiner rechten Hand weist Bismarck in die Richtung in der Nähe stehender Männer, wie eine Aufforderung zur Mitarbeit.

Diese Männer stehen in einem Halbkreis abgewendet, mit dem Rücken zum Bauwerk. Sie sind Vertreter politischer Parteien im Reichstag. Die Männer mit der Aufschrift „Centrum“, „Fortschritt“, „Sozial-Demokrat“, „Volkspartei“ und „Polen“ haben demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkt und zeigen so ihre Ablehnung einer Mitarbeit. Der Mann mit der Aufschrift „National-Liberal“ hat seinen linken Arm vor die Brust gelegt und hält seine rechte Hand auf sein Ohr, will also anscheinend nicht unbedingt total untätig und gegen die Regierung sein, hat aber wenig bereitwillig, bei dieser sache auf sie zu hören und ihr zu folgen. Der Mann mit der Aufschrift „Conservativ“ scheint mit dem ausgestreckten Zeigefinger besonders gemeint zu sein. Er hat den Kopf halb umgedreht.

Es sind Vertreter mehrer Partein zu sehen.

„National-Liberal“: Nationalliberale Partei; der Mann könnte Rudolf von Bennigsen oder Johannes Miquel sein (die Leitung der Partei war 1883 von Bennigsen auf Miquel übergegangen; Ludwig Bamberger kann es nicht gut sein, weil er zu der Zeit der Partei „Liberale Vereinigung“ angehörte).

„Centrum“: Deutsche Zentrumspartei; Partei des politischen Katholizismus; der Mann ist Ludwig Windthorst

„Conservativ“: Deutschkonservative Partei; der Mann könnte der Parteivorsitzende Otto von Helldorff sein; auffällig ist die altertümliche Rüstung mit riesigem Schwert, der Helm hat ein wenig Ähnlichkeit mit dem preußischen Helm mit Spitze (»Pickelhaube«), was auf den Schwerpunkt der Partei in Preußen hinweist wie die Rüstung auf Rückwärtsgewandtheit und adlige Gutsbesistzer und Offiziere als wichtige Träger

„Fortschritt“: Deutsche Fortschrittspartei; linksliberal; der Mann ist Eugen Richter

„Sozial-Demokrat“: Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), im Oktober 1890 umbenannt in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD); der Mann ist August Bebel

„Volks-Partei“: Deutsche Volkspartei; linksliberal, Schwerpunkt in Süddeutschland; der Mann ist vielleicht Leopold Sonnemann

„Polen“: Vertreter der polnischen Minderheit im Deutschen Reich; der Mann ist vielleicht Ludwig von Jazdzewski

Die Karikatur gibt eine Darstellung, wie Bismarck mit den Regierungsentwürfen zu einer Unfallversicherung bisher im Reichstag auf weitgehende Ablehnung gestoßen ist. Bismarck arbeitet daran, die 1883 beschlossene Krankenversicherung umzusetzen, und wird allein von den Antisemiten (Hofprediger Adolf Stoecker mit seiner Christlich-sozialen Partei) politisch unterstützt.