Zählt Effi Briest von Theodor Fontane zu den Adoleszenzromanen?

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Das kommt ganz enorm auf die Definition des Begriffs "Adoleszenzroman" an und ist auch dann noch sehr kritisch zu hinterfragen, da das Genre selbst sich erst weit nach Fontane herausbildete. "Catcher in the Rye" wird heutzutage gerne dem Genre zugerechnet, da ein Grundmotiv hier das Erwachsenwerden, der innere Wandel vom Kind zum Erwachsenen ist - eine solche Entwicklung fehlt bei Effi Briest gewissermaßen, wenngleich man ihre Affäre mit von Crampas und ihren Konflikt zwischen der kindlichen Naivität und dem engen Kodex ihrer biederen zeitgenössischen Gesellschaft noch einigermaßen als ein Motiv des postmodernen Adoleszenzroman interpretieren könnte. Aber in Abwesenheit eines solchen Genreeinflusses halte ich diese Bewertung für eher kritisch. Fontane war genretechnisch sicherlich beeinflußt durch den zu seiner Zeit sehr populären Bildungsroman einerseits (Effi ist für dieses Genre mit 17 zu alt und die Erzählspanne passt nicht zu einem Bildungsroman, aber Fontane wird sich von diesem Genre inspiriert haben lassen), andererseits auch die zu seinerzeit sehr populären sittengemäldehaften Gesellschaftsromane von Émile Zola. Aus heutiger Sicht ist es ein Mix aus verschiedenen Subgenres, die man unter der Gesamtbezeichnung "Gesellschaftsroman" zusammenfasst.

Die von Deutschlehrern sehr gerne bevorzugte Interpretation für den Adoleszenzroman ist, dass die die Handlung vorantreibenden Konflikte aus dem pubertären (unreifen) Geiste des Adoleszenten entsteht, dem man emotional während der Lektüre sehr nahe ist, und der sich letztlich zu einem (aus gesellschaftlicher Sicht) günstigen Menschen entwickelt. (Ironischerweise weist Fontanes "Effi Briest" tatsächlich Züge dieses Plots auf - da die Auflösung aber aus Sicht des gegenwärtigen Lesers absolut negativ ist, bedarf es einer Menge Reflektionsbereitschaft, um das Gewinnen der gesellschaftlichen Konventionen heute als genauso negativ zu betrachten wie damals - das ist ein Sprung, den der postmoderne Adoleszenzroman gerne vollbringt, zu dem aber Deutschlehrer nur sehr selten imstande sind).

Letztlich zielt auch Fontanes Handlung nicht auf die Adoleszenz als solche ab. Problematisch ist vor allem der Konflikt zwischen dem Willen des Individuums und dem Willen der Allgemeinheit, des gesellschaftlichen Codex’. Das heißt, wenngleich "Effi Briest", als zeitgenössisch sehr den damaligen "Mainstreammarkt" treffender Gesellschaftsroman, Züge und Motive des heutigen Adoleszenzromans enthält, ist er in Gänze nicht in diese Subgruppe des Gesellschaftsromans insgesamt einzuordnen. Dazu sind die - aus heutiger Sicht - "Klassiker" des Adoleszenzromans ("Catcher in the Rye", "Tschick" oder auch "Crazy") viel zu deutlich in ihrem Konfliktaufbau an den typischen Pubertätsproblemen- und -konflikten orientiert, die bei Fontanes Effi Briest, genauso wie in vielen Geschichten des leider viel zu stark in Vergessenheit geratenen von Keyserlings, zwar durchaus vorkommen, aber nicht im Wesentlichen die Handlung vorantreiben; die Pubertät spielt in Effi Briest viel weniger eine Rolle als die unterdrückende Last zeitgenössischer Konventionen, die keinen noch so kleinen Ausbruch erlauben - unabhängig vom Alter des Ausbrechenden.