Wieso kann man das Streben nach Glückseligkeit als das höchste Ziel aller Menschen bezeichnen (Aristoteles, Eudaimonia)?

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Du hast da eine nach meiner Sicht sehr interessante Thematik angeschnitten. Die Glückseligkeit ist tatsächlich nicht als das höchste Ziel zu bezeichnen, sondern sie ist im Grunde immer das motivationale Moment, das hinter den verschiedenen Strebungen steht. Im Grunde wird immer nur dann ein moralisches Ziel angesteuert, z.B. Freundschaft zu einem anderen Menschen, den wir wertschätzen, wenn wir im Prozess des Anstrebens ein gutes Gefühl haben, eben dieses Glücksgefühl. Auch in der Liebe zu einer Frau/Mann suchen wir die Begegnung, weil wir unbewusst davon ausgehen, dass in der Begegnung mit diesem Menschen sich dann die besagten Glücksgefühle einstellen werden. Man kann also - und hier gebe ich dir völlig recht - nicht das Glück oder die Glückseligkeit als solche anstreben, sondern immer nur andere Ziele, in deren Verfolgen oder auch Erreichen sich das Glück dann einstellt. 

Von da aus ist es tatsächlich fragwürdig, die Eudaimonia als das höchste anzustrebende Ziel zu bezeichnen. 

Ob man dann die anderen moralischen oder auch weniger moralischen Ziele überhaupt in eine Hierarchie bringen kann, ist eine obendrein sehr schwer zu beantwortende Frage, weil es zahlreiche sog. elementare Begehrlichkeiten gibt, die - sofern sie sich auf einen extremen Mangel richten - absolut dominierend sind (z.B. der Durst bei tagelanger Flüssigkeitsentbehrung). 

Dass soziale Strebungen in fast allen menschlichen Gemeinschaften höher gewertet werden als die auf die eigene Person gerichteten, ist allerdings gut nachvollziehbar, weil natürlich jedes Lebewesen ohnehin sein eigenes Wohlergehen stets verfolgt und nun eben aufgefordert sein muss, auch für die Gruppenmitglieder zu sorgen, die schwächer, kleiner, unreifer oder auch älter sind, weil deren vitale Durchsetzungspotenzen noch nicht oder nicht mehr so stark ausgebildet sind wie das bei einem voll vitalen und gesunden Erwachsenen der Fall ist. 

Bilanz: Deine beiden Fragen sind echte Infragestellungen der aristotelischen Sichtweise. Zum einen können wir Glückseligkeit nicht anstreben, sondern immer nur andere "Güter" wie Liebe, Freundschaft, Macht oder Geltung, in deren Verfolgung oder in deren Erreichen sich Glückseligkeit einstellt. Zum anderen ist eine Rangordnung der anzustrebenden Werte bei den einzelnen Menschen durchaus unterschiedlich. Allerdings kann man sagen, dass es in den Ethiken fast aller Sozietäten weltweit die Regel ist, dass den sozialen Verhaltensweisen und den gemeinschaftsfördernden Strebungen ein höherer Rang zugesprochen wird, unabhängig davon, ob bei der Erfüllung dieser Bestrebungen tatsächlich ein stärkeres Glücksgefühl entsteht.

Durch das Erreichen der Ziele entsteht diese Glückseligkeit bzw löst es Glücksgefühle in uns aus. Würden wir dabei nichts fühlen, dann würden wir diese Ziele nicht anstreben. Man kann aber auch durch andere Dinge glücklich sein und Glückseligkeit will doch jeder in sich haben

Ich denke, dass der Hinweis wichtig ist, dass eine Argumentation von Aristoteles zu VERSTEHEN und argumentativ NACHZUVOLLZIEHEN nicht mit einer persönlichen Zustimmung verwechselt werden sollte. Es geht nicht darum, dass Du die Argumentation des Aristoteles zu der Deinen machen sollst, sondern nur, dass Du nachvollziehen kannst, WIE er argumentiert hat. Aristoteles hat wie alle Philosophen der Antike in einer anderen Welt gelebt als wir heutigen, die von Grundeinstellungen des Christentums über 1.000 Jahre geprägt ist. In der Antike hat der Staat (bei Aristoteles noch die Polis) nur einen Bruchteil dessen geregelt, was heute der Staat regelt. Da war jeder auf sich allein, seine Familie und Freunde gestellt. Staatliche Absicherungen gab es nicht. In der Antike noch bis Mark Aurel ging es darum, wie man persönlich und eigenverantwortlich zu einem erfüllenden Leben findet. Glückseligkeit, Eudaimonia hieß, wie komme ich gut mit meinem Leben klar bei all den Gefährdungen, die damals sehr viel größer waren. Jeder Mensch strebt nach einem erfüllten, einem gelingenden Leben. Die bittere Armut als Konsequenz des Scheitern hatten sich haufenweise um sich. Was dazu als Prinzipien zu beachten sind, da hat dann Aristoteles andere Vorstellungen als z.B. die Stoiker oder die Epikureer.

Der große Bruch kam dann mit dem Christentum, als nicht mehr das persönlich zu verantwortende diesseitige und aktuelle Leben im Mittelpunkt stand, sondern das Leben nach dem Leben, die ewige Seligkeit oder die ewige Verdammnis. Da hat sich dann die MUTTER KIRCHE wie eine allmächtige Glucke über die Individuen gestülpt, ganz anders als die polytheistischen Religionen der Antike. In der Beichte haben sie einem bis unter die Bettdecke nachgemacht. Das wurde zwar mit der Aufklärung zurückgedrängt, doch würden heute die Obernannys am liebsten den Kühlschrank samt Speiseplan kontrollieren. Diese Einstellung, dass ein Vater-Versorgungsstaat sich um alles - mit exzessiver Überwachung gewährleistete Sicherheit inclusive - kümmert, die gab es in der Antike nicht. Umgekehrt, je mehr Verantwortung (und Gefährdung) der Einzelne für sein Leben hat, um so mehr ist in der Tat eine vordere Priorität, dass dieses Leben gelingt. Dazu ist auch zu bedenken, dass sich die Akademie (Platon), der Peripatos (Schule des Aristoteles) und die Stoa vorwiegend an gebildete Aristokraten gewandt hat. Das einfache Volk war aus heutiger Sicht bettelarm und war von morgens bis abends mit irgendwie Überleben beschäftigt. Die große Armut und Lebensungewissheit der Masse war den Begüterten immer eine Mahnung, sich um ein gutes Leben zu kümmern, um nicht in diese Armut abzurutschen.