Wie wird diese Karikatur interpretiert?

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Im British Museum befindet sich eine mit Tusch-Ätzung handgefäbte Radierung von 34, 5 cm Höhe und 25, 4 cm Breite.

https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1868-0808-7303

eine Schwarz-Weiß-Abbildung:

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_genius_of_France_nursing_her_darling.jpg

eine Schwarz-Weiß-Abbildung der Radierung, als Maße sind angegeben 35, 7 Höhe und 25, 3 cm Breite:

https://www.akg-images.co.uk/CS.aspx?VP3=SearchResult&ITEMID=2UMDHUF9TDC4&LANGSWI=1&LANG=German

zur Interpretation

Die in London (bei Hannah Humphrey, 27 St James's Street) am 26. November 1804 veröffentlichte Karikatur von James Gillray richtet sich gegen Napoleon und gegen die Französische Revolution. Napoleon wurde am 2. Dezember 1804 in Paris zum Kaiser der Franzosen gekrönt. Ein Antrag auf eine Verfassungsänderung mit einer in Napoleons Familie erblichen Kaiserwürde war schon am 18. Mai 1804 beschlossen worden und am 20. Mai 1804 rechstgültig, das Bevorstehen des Ereignisses also bekannt.

Napoleon wird in der Karikatur vor allem in der Hinsicht als schlecht dargestellt, ein Kind der Französischen Revolution zu sein und dies in einer von Jakobinern und Sansculotten (Sansculotten sind politisch mobilisierte Anhänger der Revolution aus der einfachen städtischen Volksmenge) betriebenen Ausprägung »der Schreckensherrschaft« (französisch: Terreur [„Schrecken“, „Terror“]) 1793/1794. Napoleon wird als Abkömmling und Erbe der Revolution gesehen, die Todesurteile und die Hinrichtung eines Königs aus einer Dynastie mit langer Tradition kennzeichnen.

Napoleon wird satirisch verspottend als klein wie ein Kind dargestellt, nicht wie ein vollgültiger Herrscher. Er wirkt ungeeignet, zu diesem Zeitpunkt als Monarch die Herschaft zu übernehmen. Die jakobinische Richtung erscheint als Mutter und größer, wie wenn sie in Frankreich immer noch die Macht hat. Napoleon wird im Vergleich zu König Ludwig XVI. abgewertet.

Wenn das auf der Abbildung des Arbeitsblattes nicht gezeigte William Shakespeare-Zitat (aus „König Lear“, 3. Akt, 4. Szene) unterhalb des Bildes einbezogen wird, werden gegen Napoleon und gegen die Französische Revolution Vorwürfe nahegelegt, falschherzig/heuchlerisch, leichtgläubig/falsch verstehend, blutrünstig, ein verhehlender diebischer Heimlichtuer, gierig, tollwütig/wahnsinnig/verrückt (ohne Rücksicht und Mäßigung übliche politische Spielreglen verletzend) und räuberisch (mit Neigung zu Raub und Beutemachen) zu sein.

Napoleon hat sich selbst als »Sohn der Revolution«, ihr legitimer Erbe verstanden.

Nach einem Bericht von Samuel Taylor Coleridge in der Zeitung „Morning Post“ am 18. Februar 1800 hat der englische Premierminister William Pitt in einer Rede zum Fortbestehen des Krieges mit Frankreich im Unterhaus des englischen Parlaments am 17. Februar 1800 Napoleon als »Kind und Meister/Vorkämpfer/Verfechter des Jakobinismus« (englisch: child and champion of Jacobinism) beschrieben. Diese Bezeichnung hat sich in England verbreitet.

Die Militäruniform deutet auf Napoleons Aufstieg in den Revolutionskriegen und ihre Fortführung.

Die Jakobiner haben in Frankreich ab 1792 die Republik gewollt. Die Karikatur deutet aber auf Hinrichtung (21. Januar 1793) des König Ludwig XVI. und Sturz des Königtums in Frankreich. Napoleon ist einige Zeit Jakobiner gewesen, aber nicht über 1794 hinaus. Er hat sich danach gegen Jakobiner gewendet, 1801 Jakobiner verhaften und nach Guyana deportieren (zwangsweise verschicken) lassen. 1804 waren die Jakobiner in Frankreich tatsächlich schon lange nicht mehr an der Macht und Napoleon stand zu ihnen in Gegnerschaft. Die Karikatur ist keine zutreffende Wiedergabe der tatsächlichen Lage 1804, sondern will Napoleon einer radikalen Richtung zuordnen.

Beschreibung

Die Bildunterschrift heißt: „The Genius of France nursing her darling” (Der Genius von Frankreich hätschelt seinen Liebling).

Der Genius (Schutzgeist, schöpferische Geisteskraft) ist in der Karikatur eine hässliche Frau Typ »Hausdrachen«/»Flintenweib«, die deutlich über die Zeit der Jugendblüte hinaus ist. Die Knollennase und die Backen sind rot gefärbt wie von übermäßigem Alkoholkonsum. Der Mund ist wulstig, es gibt scharfe Falten im Gesicht, die Haare sind zottelig. Die Frau trägt ein langes einfaches gelblich-beiges Kleid mit etwas Weiß an Brust und Armen und rote Schuhe. Auf dem Kopf trägt sie eine rote phrygische Mütze (damals als Freiheitsmütze gedeutet; es gibt auch die Bezeichnung „Jakobinermütze“, daher wohl die Bezeichung „Jakobinerhaube“) und daran eine Kokarde (eine Bandschleife in Form einer Rosette, wurde während der Französischen Revolution verbreitet als Abzeichen an der Kopfbedeckung oder Kleidung in der Öffentlichkeit getragen) in den französischen Nationalfarben Blau, Weiß und Rot. Die Frau symbolisiert in einer nationalen Allegorie Frankreich (bis 1804 Französische Republik, danach Französisches Kaiserreich) und steht dabei für Jakobinismus. Sie sitzt auf einem Lehnstuhl/Sessel mit Armlehnen und Rückenpolster.

Die Frau hält mit ihrer Arm wie zum Schaukeln einen klein wie ein Kind dargestellten Napoleon hoch. Anscheinend hat sie ihn aus einer daneben auf dem Boden stehenden korbförmigen Wiege mit Bettzeug in den Farben Rosa und Weiß genommen. Der auf der rechte Hand sitzende Napoleon trägt Militäruniform (schwarze Stiefel mit rotem Besatz, weiße Hose, blaue Jacke mit gelbem und rotem Besatz, Schärpe mit rotem und weißem Streifen) sowie einen schwarzen Zweispitz mit gelbem Besatz und einem großen Federbusch in den französischen Nationalfarben Blau, Weiß und Rot und über der Uniform den Krönungsmantel (Blau, weißer Hermelinpelz mit schwarzen Flecken, goldgelbe Lilien) französischer Herrscher. Mit dem Zeigefinger seiner linken Hand zeigt Napoleon eifrig und begierig auf eine Klapper/Rassel mit Glocken/Schellen und einer Krone obenauf, von der Fraumit erhobener linker Hand hochgehalten. Dies verdeutlicht seinen Wunsch, Monarch zu werden. In seiner rechten Hand hält er ein Zepter mit der Lilie des bourbonischen Königshauses

Die Frau singt, Napoleon angrinsend, etwas aus einer Kindergeschichte:

"There's a little King Pippin

"He shall have a Rattle & Crown,

※ Bless thy five Wits my Baby

"Mind it dont throw itself down!

Hey my Kitten, my kitten &c &c.“

(„Da ist ein kleiner König Pippin.

Er soll eine Klapper/Rassel und eine Krone haben.

Gesegnet seien deine fünf Sinne/Verstandeskräfte, mein Baby:

Pass auf, dass du nicht umfällst.

Hey, mein Kätzchen, mein Kätzchen usw.“)

Am Stuhl/Sessel sind mehrere kleine Menschenköpfe angebracht. Das rote Rückenpolster ist in brauner Farbe mit der Abbildung einer Guillotine (1792 in Franreich eingeführtes Hinrichtungsinstrument) geschmückt. Die linke Hand der Frau, der linke Arm und das Kleid in Höhe der Beine sind blutbefleckt. Hinter dem Stuhl/Sessel befindet sich ein ovaler Schild mit drei Längsstreifen in den französischen Nationalfarben Blau, Weiß und Rot. Ungefähr in der Mitte ist im Porträt der Kopf (das abgeschlagene Haupt) des Königs Ludwig XVI. abgebildet, durch die Hinrichtung mittels Guillotine abgetrennt und bluttropfend. Darunter ist eine umgedrehte Krone (Symbol für Sturz des Königtums). Auf der linken Seite ist die Aufschrift: „Vive la République“) (französisch; „Es lebe die Republik“), auf der rechten Seite die Aufschrift: „The Last of kings“ (englisch: „Der Letzte der Könige“). An die Wand gelehnt ist eine blutriefende Pike (typische Waffe der Sansculotten).

Unterhalb des Karikaturbildes sind Verse aus einer Dichtung hinzugefügt:

„※"False of Heart, light of Ear, bloody of Hand,

"Fox in Stealth, Wolf in Greediness, Dog in Madness,

"Lion in Prey: - bless thy Five Wits" -

vide Shakespeares King Lear“

(„Falsch von Herzen, leicht von Ohr, blutig von Hand,

ein Fuchs an Heimlichtuerei, ein Wolf an Gier, ein Hund an Tollwütigkeit/Tollheit/Wahnsinn/Verrücktheit,

ein Löwe an Räuberei: - gesegnet seien deine fünf Verstandeskräfte“ -

siehe Shakespeares König Lear“)

Lisx821 
Fragesteller
 09.09.2022, 19:29

Vielen lieben Dank für diese Antwort, hat mir sehr geholfen:-)

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