Wie bestimmt Voltaire das Verhältnis von Religion und Fanatismus?

2 Antworten

Dann lies mal das:

http://universal_lexikon.deacademic.com/316530/Voltaire%3A_Fanatismus_und_Toleranz_-_Religionskritik_in_Frankreich

Denn Voltaire versteht man nicht, wenn man nicht auch seine Zeit im Blick hat. Das wird im 1. Abschnitt beschrieben. Dass nur sein Buch " Fanatismus und Toleranz" mit großem Brimborium öffentlich verbrannt wurde (und natürlich auf den Index der verbotenen Bücher kam), war schon ein Fortschritt. 85 Jahre früher ist ein Giordano Bruno noch höchstpersönlich öffentlich in Rom verbrannt worden. In Frankreich und deutschen Fürstentümern bestimmte immer noch der Monarch, was seine Untergebenen glauben durften. Selbst ein Baruch de Spinoza - ein jüdischer Philosoph und Zeitgenosse von Voltaire - wurde in Holland von der eigenen jüdischen Gemeinde als Glaubensabtrünniger verfolgt. Die Befreiung von religiösem Wahn aller Arten hatte erst begonnen, die Hexenprozesse in Deutschland noch nicht vorbei.

Doch wäre es zu einfach, Fanatismus und Religion gleichzusetzen. Religiöser Fanatismus ist nur eine spezielle Ausprägung. Inzwischen hatten wir den Nationalsozialismus, Musolini in Italien, Stalin und Mao und die Krönung, die Roten Khmer in Kambodscha. Allesamt keine religiösen Fanatismen. Es reicht ja auch schon unsere gelieben Fußballfans zu beobachten, wenn sie mit glühenden Augen aufeinander losgehen. Voltaire glaubte noch an die Dämmkraft der Vernunft und Kant hat nur noch die Vernunft gelten lassen wollen. Das war eine Verkennung der Wirklichkeit. Nur der skeptische Epikureer David Hume wollte da nicht mitmachen und hat doch tatsächlich behauptet, dass unsere Vernunft nur nachträglich begründet, was die Emotionen wollen.

Albaks 
Fragesteller
 14.07.2015, 12:35

Was wurde genau mit Vernunft gemeint, ich weiß das Voltaire die Religion an sich nicht besonders kritisiert hat aber diese die sie damals praktisch vorgestellt haben,

0
berkersheim  14.07.2015, 13:02
@Albaks

Vernunft ist im Sprachgebrauch nicht einheitlich. Vernunft als eine "geistige Qualität" hat für Aufklärer wie Voltaire und Kant fast eine höhere Eigenexistenz, die unpersönliche Leiterin zur richtigen Entscheidung. Wenn Menschen "richtig denken", kommen sie alle zum selben vernünftigen Schluss. Darum auch die Aufforderung zum "selbst denken". Die Sprachkritik eines Epikur ist da noch verloren, bzw. nur bei David Hume anzutreffen. Wörter, Begriffe sind eben keine 1 zu 1 Abbildungen der Wirklichkeit, die man nur richtig, logisch korrekt kombinieren muss um überall zum gleichen, vernünftigen Ergebnis zu kommen.

0

Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet) hat nicht allgemein Religion abgelehnt, obwohl es bei ihm viel Religionskritik gibt. Dagegen hat Voltaire ganz grundsätzlich Aberglauben (den er vor allem als religiösen Aberglauben versteht) und Fanatismus entschieden abgelehnt, sie in Schriften bekämpft und sich gegen sie eingesetzt.

Aberglaube ist für ihn ein unkritischer Glaube, dessen Annahmen gegen Vernunft/Verstand (raison) verstoßen.

Fanatismus entsteht nach Voltaires Auffassung bei einer schlechten Art von Religion.

Fanatismus deutet er als (religiösen) Aberglauben, der dogmatisch (starr an vermeintlich unumstößlichen, aber nicht ausreichend bewiesene Lehren festhaltend) und sehr intolerant (unduldsam) Überzeugungen vertritt und dabei auch zu äußersten Mitteln greift. So kommt es zu Dummheit, Haß, Unterdrückung, Grausamkeit und Verbrechen. Der Fanatismus flößt blutdürstige Leidenschaft ein.

Voltaires Losung Écrasez l’infâme! („Zermalmt die Niederträchtige!“/“Vernichtet die Schändliche“) richtet sich gegen den von ihm verachteten Aberglauben und eine diesen fördernde Kirche mit ihrem Machtapparat.

Voltaire neigte – wie viele Philosophen im Zeitalter der Aufklärung - einem Deismus zu, einem mit Vernunft vereinbaren Glauben an die Existenz eines Gottes, der die Welt geschaffen hat, aber nicht – durch zu den Naturgesetzen in Widerspruch stehende Wunder – in einzelne Ereignisse der Welt eingreift. Bei Voltaire geht dieser deistische Standpunkt nicht über einen kleinen Kern der Voraussetzungen für den Deismus hinaus: Existenz Gottes/eines höchsten Wesens - manchmal auch Vorsehung (providence) genannt - ,Schöpfung und Einrichtung der Welt nach einem festgelegten Plan, mit bestimmten Gesetzen.

Fast alles, was über die Verehrung eines höchsten Wesens und den Gehorsam gegenüber seinen ewigen Gesetzen hinausgeht, hielt Voltaire für Aberglauben. An der Unsterblichkeit der Seele hat er erhebliche Zweifel gehabt.

Voltaire hat in Schriften gegen den Atheismus Stellung genommen. Grundlage seiner Annahme einer Existenz Gottes/einen höchsten Wesens sind Überlegungen wie die über die zweckmäßige Ordnung in der Natur und die Notwendigkeit einer ersten Ursache. Bei einem materialistischen Atheismus hat er auch die Erklärung des Bewußtseins und seiner Entstehung für nicht gut möglich gehalten. Außerdem meinte Voltaire, dieser Ansatz könnte einem aus ihm gefolgerten Fatalismus (Annahme eines streng notwendigen Verlaufs, eines unabänderlich vorbestimmten Schicksals, dem der Wille der Menschen nicht entgegensetzen kann und dem gegenüber Versuche eigner Entscheidungen und Handlungen sinnlos sind) nicht entgehen, was vor allem im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verantwortung der einzelnen Menschen abgelehnt werden müsse.

Voltaire neigte der Auffassung zu, Offenbarungsreligionen zögen zwangsläufig Intoleranz nach sich, seien also für Fanatismus sehr anfällig. Toleranz war für ihn wichtig. Es gibt von ihm eine Abhandlung über die Toleranz (Traité sur la tolerance, 1763).

Atheismus hat Voltaire für weniger gefährlich als aus Offenbarungsreligionen erwachsenden Fanatismus gehalten. Der Atheismus hindere Verbrechen nicht, der Fanatismus aber lasse sie begehen.

Voltaire hat Religion hauptsächlich unter praktischen Gesichtspunkten beurteilt. Die Religion ist für Voltaire nur so weit akzeptabel, wie sie mit gut vertretbarer Moral übereinstimmt und allgemein ist. Wahre Religion sei die geheime Stimme Gottes, die zu alle Menschen spreche. Was als Offenbarung nur an eine bestimmte Gruppe von Menschen, ein bestimmtes Volk, an einzelne Individuen oder ähnlich ausgegeben wird, kann nicht als Offenbarung gelten.

Voltaire meint, im Interesse der Moral, der Gerechtigkeit und der staatlichen Ordnung sei es nötig, einen vernünftigen Glauben an ein höchstes Wesen, das die Welt geschaffen hat und lenkt, das belohnt und bestraft, den Menschen tief einzuprägen.

Philosophische Menschen/Weise, die aufgrund vernünftiger Einsicht die Gesetze achten, könnten sich auch ohne Glauben an die Existenz Gottes und an die Unsterblichkeit der Seele gut und gerecht verhalten. Für gewöhnliche Menschen hält Voltaire aber Zügel für nötig, der sie vor Schlechtem zurückhält. Sie könnten nur durch den Glauben an Himmel und Hölle von Verbrechen abgehalten werden.

Ein solcher Gesichtspunkt der Nützlichkeit von Religion ist der Hintergrund einer Äußerung in einem Brief am 1. November 1770. „Wenn Gott nicht existierte, müßte man ihn erfinden.“

Albrecht  15.07.2015, 10:12

Informationen in Büchern:

Gerhardt Stenger, Voltaire. In: Frankreich (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts – Band 2/2). Herausgegeben von Johannes Rohbeck und Helmut Holzhey. Basel : Schwabe, 2008, S. 215 – 261

S. 225 – 226:„Seine historischen Studien hatten ihn die Gräuel der Geschichte vor Augen geführt und ihn in seiner Meinung bestärkt, die meisten Massaker seien auf philosophisch-religiöse Motive zurückzuführen, auf theologische Spitzfindigkeiten und auf die Machtgier der Kirche. Er betrachtete es deshalb als seine persönliche Aufgabe, Frankreich und Europa vom religiösen Fanatismus zu befreien.“

Wolfgang Röd, Die Philosophie der Neuzeit Band 2: Von Newton bis Rousseau. München : Beck, 1984 (Geschichte der Philosophie. Herausgegeben von Wolfgang Röd. Band 8), S. 171 – 185 (Voltaire)

S. 128: „Voltaires Deismus ist zugleich Humanismus, d. h. die praktischen Konsequenzen des vernünftigen Gottesglaubens gehören wesentlich zu ihm: „Wir wollen eine Religion, aber eine einfache, weise, erhabene, die weniger Gottes unwürdig und mehr für uns gemacht ist; wir wollen mit einem Wort Gott und den Menschen dienen" (Dieu et les hommes; XXVIII, 243).“

1