Warum habt ihr eure allgemeine politische Einstellung geändert?

7 Antworten

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie - und aus einem Bundesland, das früher mal klar von der SPD dominiert war. Damals hat das für mich viel Sinn ergeben, heute denke ich ein wenig anders, ich habe mich aber nicht weit bewegt. Oskar Lafontaine war früher mal ein guter Politiker, nun im Alter ist er leider völlig abgedriftet, ihn (inklusive seiner Frau) kann ich nur noch bedauern. Traurige Geschichte.

Ich war stets auf der Seite der Wissenschaften, habe aber immer auch auf Humanität geachtet - auch christliche Werte spielen eine Rolle (wenngleich ich nie CDU gewählt habe, aber wer weiß, was noch kommt). Daher kann ich mit keinerlei Verständnis für die russische Seite in diesem Konflikt aufwarten. Von klein auf habe ich versucht, die schwächere Seite in Konflikten wahrzunehmen, und sie genau dann zu unterstützen, wenn die Gerechtigkeit und Humanität es erfordern.

Und als Wissenschaftler bin ich nicht zufrieden mit einfachen Antworten (siehe Sarrazin), sondern ich weiß, dass die Erde ein komplizierter Ort ist. Mit manchmal unangenehmen Seiten (Klimawandel, Krankheiten), die man nicht aus populistischen Gründen kleinreden sollte (die AfD kennt keinen menschengemachten Klimawandel - und erinnert ihr euch an den Anfang von Corona?, zunächst wurde Panik von seiten der AfD verbreitet, da kam ja was aus China, und danach - schwupps - war es angeblich harmlos).

"Harmlos" war es aber nicht aus wissenschaftlichen Gründen, sondern weil nun auch seriöse Wissenschaftler warnten. Und da MUSSTE die AfD widersprechen, nicht aus sachlichen Gründen, sondern rein aus Prinzip. Zustimmung zum "Mainstream" kann und darf es dort nicht geben. Ideologie eben.

Solche Dinge habe ich schon früh durchschaut.

Physik kennt keine demokratischen Mehrheiten, Biologie und Medizin auch nicht.
Verständnis ist nicht zu ersetzen durch starke Meinungen. Verständnis ist anstrengend zu erwerben. Und braucht den Willen dazu. Nicht rhetorisches Selbstvertrauen, sondern den Willen dazu, sich etwas anzulesen und auch mal zu sagen, ok, das habe ich nun noch nicht kapiert.

Und ich habe viel Verständnis für Arbeiter (mein Vater war auch einer), ich kann gut verstehen, wenn sie auch mal Leuten wie Riexinger zuhören (den wähle ich nicht, aber ihn finde ich noch besser als Wagenknecht, die es sich angewöhnt hat, arme Deutsche gegen arme Zuwanderer gegeneinander auszuspielen). Wagenknecht blinkt links, biegt dann aber manchmal überraschend rechts ab.

Manchen gefällt das, mir sicher nicht.

Ich bin weder reich noch fahre ich einen Tesla. Vegetarier bin ich auch nicht.
Mein alter Schreibtisch fällt fast auseinander. Eigentlich bin ich erschreckend normal.

Mein Vater hat schon vor 2000 prognostiziert, dass viele Deutsche rechts sind. Damals haben ihm die meisten das nicht geglaubt. Erst 2013 wurde die AfD gegründet. Wie recht mein Vater hatte, zeigte sich danach. Sobald es Krisen gibt, neigen viele Deutsche dazu, nach oben zu buckeln (oje, nicht den Xi Jinping beleidigen, der ist doch so mächtig... schleim/schleim... ) und nach unten zu treten (siehe Ausländer, siehe LGTB, siehe andere...).

Aber zum Glück sind die meisten noch bei der Demokratie, bei der Humanität, und manche auch bei christlichen Werten. Diese Mischung lässt sich aushalten. Und wenn der Dönermann einen vernünftigen, gemäßigten Islam vertritt, wieso nicht?
Und wenn der Zentralrat der Juden warnt, würde ich auch zuhören - und im Zweifelsfall mal nicht so sehr auf das Bierzelt hören.

Und bei der SPD vermisse ich kernige Aussagen. Früher gab es einen Herbert Wehner, der war sicher nicht brav, aber er konnte geschliffene Sätze aus dem Stegreif formulieren und war an der richtigen Stelle im Angriffsmodus. Heute sitzen Leute wie Klingbeil in Talkshows und zeigen dabei eine Angriffslust wie eine Milchsemmel.

Früher war ich für die Arbeiterparteien/-Bewegungen (SPD, Gewerkschaften, z.T. Linke Positionen), bis ich irgendwann erwachsen, weniger naiv wurde und gemerkt habe, dass diese sich auch nur selbst bereichern und nicht da sind, wenn man sie braucht. Von daher, Eigenverantwortung ist das Stichwort. Damit bin ich hervorragend gefahren bislang.

Die Entwicklungen der letzten ca. 20 Jahre, vor allem aber seit 2015, haben mir die Augen geöffnet, dass da, wo "konservativ" draufsteht, nicht zwangsläufig auch konservativ drin ist. Dasselbe gilt auch für "sozialdemokratisch" oder "freiheitlich-liberal". Das sind nur noch leere Worthülsen, die jegliche Bedeutung verloren haben. Oder auch ganz allgemeine Begriffe wie "demokratischer Rechtsstaat". Inzwischen ist der nämlich immer mehr zum autoritären Linksstaat mutiert.

Ich hab mich immer in der Mitte gesehen, von allem ein bisschen was. Und das ist auch heute noch so. Meine Einstellung hat sich also gar nicht geändert, aber die Parteienlandschaft umso mehr. Alles ist dermaßen nach Linksgrün verrutscht, dass ich mich plötzlich rechts von der neu gezogenen Mittellinie wiederfinde, obwohl ich mich überhaupt nicht vom Fleck bewegt hab. Aber okay, auch gut. Dann muss ich bei der Wahl eben mein Kreuz auch an entsprechender Stelle setzen.

Krisen ebenso wie ruhige, mehr oder weniger normale Lagen haben meine Meinung bisher gleichermaßen geformt. Ein Elternhaus was einem in den wichtigen Situationen mit Offenheit begegnet ist, hat den ganzen Prozess in jüngsten Jahren unter anderem auch maßgeblich vorangetrieben und gefördert.

Corona, der russische Angriffskrieg und der ganze Aufruhr rund um Artikel 13 vor ein paar Jahren waren die drei größten meinungsbildenden, politischen Eckpunkte der letzten fünf Jahre für mich persönlich. Eigene Erkenntnisse, wie viel steckt wirklich hinter welcher Partei, wer mimt den Dampfplauderer und wer handelt auch wirklich nach den eigens gesteckten Versprechen. Die Grundsätze allerdings würde ich sagen haben sich nie wirklich geändert.

Es waren viele Begegnungen mit verschiedenen Menschen, gerade auch jenen, die anders dachten als ich. Dadurch konnte ich meine Einstellung hinterfragen und an die neuen vielfältigen Eindrücke anpassen.