naiver realismus -?

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Gottfried Gabriel, Grundprobleme der Erkenntnistheorie : von Descartes zu Wittgenstein. 3., durchgesehene Auflage. Paderborn : Schöningh, 2008 (UTB ; 1743),S. 91:
„ „Naiven Realimus“ nennt man in der Philosphie diejenige erkenntnisstheoretische Position, die davon ausgeht, daß die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen.“

Eine Erklärung ist von den Bestandteilen des Ausdrucks her möglich. Dazu ist darzulegen, was Realismus in der Philosphie (insbeosnderer in der Erkenntnsitheorei) bedeutet) und inwiefern ein bestimmter Standpunkt dabei naiv ist.

In der Philosophie ist Realismus der Standpunkt (der neben einer erkenntnistheoretischen Aussage auch eine ontologische Aussage, nämlich eine Annahme über das Seiende/die Realität einschließt), es gebe eine vom Geist/Verstand/Bewußtsein/Subjekt unabhängige Welt und über diese seien (zumindest in einigem Ausmaß) Erkenntnisse/Wissen möglich.

Erkenntnistheoretischer Realismus enthält den Standpunkt: Die Dinge der Realität sind zumindest in einem gewissen Umfang und bis zu einem gewissen Grad erkennbar.

Antirealismus bestreitet dies grundsätzlich und verneint also die Existenz einer von einem Subjekt unabhängigen Welt und ihre Erkennbarkeit.

Naiver Realismus nimmt die Existenz einer vom Geist/Verstand/Bewußtsein/Subjekt unabhängigen Außenwelt an und meint, die Dinge seien genau so, wie sie wahrgenommen werden/sich einem darstellen. Die Erkennbarkeit der Dinge, wie sie tatsächlich ich sind, wird uneingeschränkt vorausgesetzt. Der naive Realismus sagt: „Es gibt eine reale Welt; sie ist so beschaffen, wie wir sie wahrnehmen.”

Er setzt im Unterschied zu einem kritischen Realismus aufgrund mangelnden Problembewußtseins etwas als selbstverständlich voraus. Er nimmt an, die Dinge seien in der Wahrnehmung genau so gegeben, wie sie sind, unmittelbar ohne Zwischeninstanzen (z. B. Bedingungen der Sinneswahrnehmung und des Verstandes/der Vernunft).

Der Unterschied der beiden Varianten des Realismus geht im Kern schon aus der Wortbedeutung hervor. Naiv stammt vom französischen Wort naïf und bedeutet, kindlich, einfältig, harmlos, unbefangen, gutgläubig, vertrauensvoll. Es ist vom lateinischen Partizipialadjektiv nativus („geboren“; das Verb nasci heißt „geboren werden“) abgeleitet, das „angeboren“, „natürlich“, „ursprünglich“ bedeuten kann. Kritisch stammt von dem griechischen Adjektiv kριτικός, zu dem Verb κρίνειν mit der Bedeutung „unterscheiden“ und „urteilen“. Wer kritisch ist, setzt seine Unterscheidungsfähigkeit ein. In der Philosophie kann Naivität kein haltbarer Standpunkt sein, weil kritisches Nachdenken und Reflexion unumgänglich sind. Die inhaltliche Position zu einer Frage könnte höchstens auf einer reflektierten/bewußteren Stufe vertreten werden.

Der naive Realismus ist keine richtige Auffassung über die Sinneswahrnehmung und ihre Erkenntnisleistung. Denn er setzt als selbstverständlich voraus, Dinge würden über Sinneseindrücke genau so, wie sie beschaffen sind, bei einem erkennenden Subjket ankommen, das Wahrnehmen sei nur passiv aufnehmend und es kämen an dieser Stelle keine Unterscheidungsleistungen des Denkens vor.

Naiver Realismus ist eine Einstellung, bei der eine kritisch-erkenntnistheoretische Reflexion unterbleibt und die Inhalte der Wahrnehmung und das Ansichsein des Wahrgenommenen identifiziert/gleichgesetzt bzw. genauer ausgedrückt in unbefragter Selbstverständlichkeit als Einheit verbunden werden.

Diese implizite (nicht reflektierte) erkenntnistheoretische Annahme scheitert an dem Auftreten von Sinnestäuschungen und der nicht abstreitbaren Rolle des Denkens beim Erkennen:

1) Die Sinneswahrnehmung ist keine völlig zuverlässige Gewähr für die Realität. Etwas ist nicht unbedingt so, wie es zu sein scheint.

2) Wahrnehmung ist kein passives Geschehen, bei dem die Gegenstände unmittelbar ein getreues Abbild schaffen. Beim Wahrnehmen gibt es ein aktives Erfassen durch das Subjekt. Dieses hat auch eine Denkweise, mit der es deutet, trägt Formen der Anschauung in sich, die der Erfahrung vorausgehen.

3) Die Sinneswahrnehmung vergegenwärtigt nicht einfach immer genau eine Sacheinheit und diese ganz, sondern es ist in bestimmten Fällen eine Erschließung durch begriffliches Denken nötig.

Dagegen kann eine eingeschränkte Variante des Realismus, kritischer Realismus, mit Argumenten vertreten und mit Erfolgsaussichten verteidigt werden: Es gibt eine vom menschlichen Denken unabhängige Wirklichkeit und diese ist zumindest bis zu einem gewissen Grad erkennbar.

Der kritische Realismus unterscheidet aber Wirklichkeit und Anschein, reflektiert menschliche Erkenntnismöglichkeiten sowie ihre Grenzen und begründet seinen Standpunkt. Aus dem Umstand, unsere Wahrnehmung (Bild der Wirklichkeit)/Vorstellung/Erkenntnis geistig herzustellen (zu konstruieren) folgt nicht zwangsläufig, die Wirklichkeit, von der wir Wahrnehmung/Vorstellung/Erkenntnis haben, sei einfach nur vom Gehirn/menschlichen Geist geschaffen.

Albrecht  16.12.2012, 23:30

Vgl. zum Thema Artikel in Nachschlagewerken, z. B.:

Wilhelm Halbfass, Realismus II. 3 Naiver Realismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8: R –Sc. Basel ; Stuttgart: Schwabe, 1992, Spalte 160 – 161

Holm Bräuer, Realismus. In: Handwörterbuch Philosophie. Herausgegeben von vWulff D. Rehfus. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 2003 (UTB : Philosophie ; 8208), S. 581 – 585
Der sogenannte naive Realismus bestehe darin, unkritisch die Inhalte der Wahrnehmung mit den wahrgenommenen Gegenständen gleichzusetzen. Im Gegensatz dazu vertrete der kritische Realismus eine Auffassung, die nur einen eingeschränkten, durch erkenntniskritische Erwägungen beschränkten Zugang zu den an sich seienden Gegenständen anerkenne.

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