Moderne Gedichte?

5 Antworten

'Hannover' - Kurt Schwitters

Die Hannoveraner sind die Bewohner einer Stadt, einer Großstadt. Hundekrankheiten bekommt der Hannoveraner nie. Hannovers Rathaus gehört den Hannoveranern, und das ist doch wohl eine berechtigte Forderung. Der Unterschied zwischen Hannover und Anna Blume ist der, daß man Anna von hinten und von vorn lesen kann, Hannover dagegen am besten nur von vorne. Liest man aber Hannover von hinten, so ergibt sich die Zusammenstellung dreier Worte: "re von nah". Das Wort "re" kann man verschieden übersetzen: "rückwärts" oder "zurück". Ich schlage die Übersetzung "rückwärts" vor. Dann ergibt sich also als Übersetzung des Wortes Hannover von hinten: "Rückwärts von nah". Und das stimmt insofern, als dann die Übersetzung des Wortes Hannover von vorn lauten würde: "Vorwärts nach weit". Das heißt also: Hannover strebt vorwärts, und zwar ins Unermeßliche. Anne Blume hingegen ist von hinten wie von vorne: A-N-N-A. Hunde bitte an die Leine zu führen.

Moderne Gedichte reimen sich oft nicht. Zumindest ist das Gedicht von Kurt Schwitters originell.

Helga Novak

Ballade von der kastrierten Puppe

1

in Bayern wo die Dörfer

alt und finster sind

lebt ein Dorfschullehrer

mit Frau und Kind

er belehrt die Jungen

und die Mädchen all

über Fleiß und gute Sitten

und über den Sündenfall

doch eines Tages schickte

Tante Lucie aus Paris

der Bettina eine Puppe

die Hildebrand hieß

der Hildebrand konnte

lachen und weinen

und hatte ein Schwänzchen

zwischen den Beinen

was habe ich denn gemacht

meine liebe Mutter?

ich träume jede Nacht:

du kämst mit einem Messer

und hättest mich umgebracht!

 

2

Bettina springt herum

und tanzt einen Ringelreihen

sie läuft zu ihrem Vater

um die Puppe zu zeigen

"was eine Jungenpuppe

in meinem sauberen Haus?

das Ding fliegt gar bald

zu den Fenstern hinaus!

weh dir ich seh dich

mit Hildebrand spielen

und dich mit dem Bengel

auf der Straße rumsielen!

wie konnte Tante Lucie

sich dazu erdreisten?

ich als Lehrer kann

mir sowas nicht leisten."

was habe ich denn gemacht . . .

 

3

doch während der Herr Lehrer

als zuverlässiger Christ

am nächsten Sonntagmorgen

in der Dorfkirche ist

– die Mutter schläft noch

und taub ist ihr Ohr –

sucht Betti ihren Hildebrand

aus dem Kleiderschrank hervor

zufällig wohnt ein Puppen-

doktor im Hause nebenan

dessen kinderlose Frau

gar nicht anders kann

als alles was geschieht

emsig zu belauschen

und jedes Ereignis

gehörig aufzubauschen

was habe ich denn gemacht . . .

 

4

Frau Doktor gewöhnt

sich zu verstecken

stand eine Weile

hinter den Rosenhecken

und als sie Bettina

und Hildebrand schaut

überzieht sie sich ganz

und gar mit Gänsehaut

"Betti pfui schäm dich!

mit deiner Zunge

zu küssen zu schlecken

den Puppenjunge!"

Bettina erschrocken

stopft den Hildebrand

ins Blumenbeet und

tief in den Sand

was habe ich denn gemacht . . .

 

5

Frau Doktor klagt und zetert:

"Betti du bist ja entartet!

ach deine arme Mutter

die gerade ein Baby erwartet!"

und der Herr Lehrer packte

das schuldlose Puppenkind

und eilte mit ihm hinüber

zum Puppendoktor geschwind

"Herr Doktor dieser Rüpel

der bringt mich noch ins Grab

schneiden Sie ihm doch bitte

sofort dieses Ding da ab!"

und zu Betti: "was heulst du

wie eine kleine Wilde?

aus deinem Hildebrand

wird eben eine Hilde!"

was habe ich denn gemacht . . .

 

6

seitdem fing Bettina an

alles und jeden zu hassen

tagtäglich zerwirfte sie

Teller und Tassen

die Mutter schlägt mit

der Stirn an die Scheibe

und sagt "Bettina

hat den Teufel im Leibe"

der Vater kann Kinder-

schmerz nicht ermessen

er selber hatte Hilde-

brand längst vergessen

"warum lachst du nicht

und singst keine Lieder

für deine Mutter?

sie kommt bald nieder!"

was habe ich denn gemacht . . .

 

7

wer huscht durch Nachbars

Blumenbeete und Hecken

um die öde Puppenpraxis

bei Nacht zu entdecken?

wer klebt mit der Nase

am staubigen Werkstattfenster

und begutachtet dort

die blassen Puppengespenster?

Bettina bewundert

voller Entzücken

die Augen die Stimmchen

und die Perücken

Nähzeug und Zangen

kleine Messer Pinzetten

"ach wenn wir doch auch

solche Werkstatt hätten!"

was habe ich denn gemacht . . .

 

8

Bettina klettert leise

ins leere Gartenhaus

und sucht sich eine Zange

und zwei Messerchen heraus

welche Freude! Bettina

singt und trällert wieder

denn ihre Mutter kam

mit einem Brüderchen nieder

sie schleicht und trippelt

auf Zehnenspitzen heim

dort oben der weiße Mond

flüstert "laß sein, laß sein!

wirf schnell die Zange

und die Messerchen weg!"

trotzdem hat Bettina alles

in ihrem Zimmer versteckt

was habe ich denn gemacht . . .

 

9

die Mutter sagt "Bettina

uns leuchtet neues Licht

jeder von uns beiden

hat nun seine Pflicht

du trägst deine Hilde

stolz und sicher im Arm

und ich halte den Christian

in seinem Bette satt und warm"

doch kaum ist die Mutter

ein paar Schritte gegangen

sieht man Bettinas Hände

nach Christians Decke langen

"ich werde dir gleich helfen

du verdammtes Luder!

was machst du da eigentlich

mit deinem kleinen Bruder?"

was habe ich denn gemacht . . .

 

10

der Bruder schläft bei Betti

in ihrem Kinderzimmer

sie tappt um sein Lager

ohne einen Lichtschimmer

Sie preßt ihr dickes Kissen

dem Christian aufs Gesicht

"so magst du ruhig weinen

die Mutter hört es nicht."

Bettina tanzt und jubelt

ist lustig wie eine Biene

"Mutter ich habs geschafft

aus Christian ward Christine!"

die Mutter eilt ans Bettchen

das Blut tropft ihr in den Schuh

der Christian ist gestorben

seine liebe Seele hat Ruh

was habe ich denn gemacht

meine liebe Mutter?

ich träume jede Nacht:

du kämst mit einem Messer

und hättest mich umgebracht

Weltfremd

Wer denkt

dass die Feindesliebe

unpraktisch ist

der bedenkt nicht

die praktischen Folgen

der Folgen

des Feindeshasses

Leider hat auch das folgende Gedicht nur 14 Zeilen. Aber es passt so gut in unsere Zeit.

Du liebe Zeit
Da habe ich einen gehört
wie er seufte: "Du liebe Zeit!"
Was heißt da "Du liebe Zeit?"
"Du unliebe Zeit" muss es heißen.
"Du unliebe Zeit"
von dieser Unzeit in der wir
leben müssen. Und doch
Sie ist unsere einzige Zeit
Unsere Lebenszeit
Und wenn wir das Leben lieben
können wir nicht ganz lieblos
gegen diese unsere Zeit sein
Wir müssen sie ja nicht genauso
lassen, wie sie uns traf

Erich Fried

in: Erich Fried - Gründe - Gedichte ausgewählt von Klaus Wagenbach,

Verlag Klaus Wagenbach

Pescatori  07.03.2022, 15:18

Oh, da habe ich übersehen, dass es mindestens 16 Zeilen lang sein muss.

Da muss ich wohl noch ein zweites Gedicht inzufügen.

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