Moderne Gedichte?
Für die Schule sollen wir ein Gedicht lernen und dürfen uns selbst eins aussuchen. Ich würde sehr gerne ein moderneres Gedicht nehmen, also keines in diesem Schreib- und Erzählstil, wie man ihn zum Beispiel von Goethe kennt. Kennt hier jemand vielleicht zufällig ein paar Gedichte, die so sind, wie ich es meine? Oder vielleicht Seiten mit solchen Sammlungen (das Gedicht muss nur mindestens 16 Zeilen lang sein)?
5 Antworten
https://www.aphorismen.de/suche?f_rubrik=Gedichte&f_zeit=20.Jh
Hier habe ich einige interessante gefunden. Vielleicht ist ja auch für dich was dabei
Die Hannoveraner sind die Bewohner einer Stadt, einer Großstadt. Hundekrankheiten bekommt der Hannoveraner nie. Hannovers Rathaus gehört den Hannoveranern, und das ist doch wohl eine berechtigte Forderung. Der Unterschied zwischen Hannover und Anna Blume ist der, daß man Anna von hinten und von vorn lesen kann, Hannover dagegen am besten nur von vorne. Liest man aber Hannover von hinten, so ergibt sich die Zusammenstellung dreier Worte: "re von nah". Das Wort "re" kann man verschieden übersetzen: "rückwärts" oder "zurück". Ich schlage die Übersetzung "rückwärts" vor. Dann ergibt sich also als Übersetzung des Wortes Hannover von hinten: "Rückwärts von nah". Und das stimmt insofern, als dann die Übersetzung des Wortes Hannover von vorn lauten würde: "Vorwärts nach weit". Das heißt also: Hannover strebt vorwärts, und zwar ins Unermeßliche. Anne Blume hingegen ist von hinten wie von vorne: A-N-N-A. Hunde bitte an die Leine zu führen.
Moderne Gedichte reimen sich oft nicht. Zumindest ist das Gedicht von Kurt Schwitters originell.
Hier ein paar Beispiele:
Helga Novak
Ballade von der kastrierten Puppe1
in Bayern wo die Dörfer
alt und finster sind
lebt ein Dorfschullehrer
mit Frau und Kind
er belehrt die Jungen
und die Mädchen all
über Fleiß und gute Sitten
und über den Sündenfall
doch eines Tages schickte
Tante Lucie aus Paris
der Bettina eine Puppe
die Hildebrand hieß
der Hildebrand konnte
lachen und weinen
und hatte ein Schwänzchen
zwischen den Beinen
was habe ich denn gemacht
meine liebe Mutter?
ich träume jede Nacht:
du kämst mit einem Messer
und hättest mich umgebracht!
2
Bettina springt herum
und tanzt einen Ringelreihen
sie läuft zu ihrem Vater
um die Puppe zu zeigen
"was eine Jungenpuppe
in meinem sauberen Haus?
das Ding fliegt gar bald
zu den Fenstern hinaus!
weh dir ich seh dich
mit Hildebrand spielen
und dich mit dem Bengel
auf der Straße rumsielen!
wie konnte Tante Lucie
sich dazu erdreisten?
ich als Lehrer kann
mir sowas nicht leisten."
was habe ich denn gemacht . . .
3
doch während der Herr Lehrer
als zuverlässiger Christ
am nächsten Sonntagmorgen
in der Dorfkirche ist
– die Mutter schläft noch
und taub ist ihr Ohr –
sucht Betti ihren Hildebrand
aus dem Kleiderschrank hervor
zufällig wohnt ein Puppen-
doktor im Hause nebenan
dessen kinderlose Frau
gar nicht anders kann
als alles was geschieht
emsig zu belauschen
und jedes Ereignis
gehörig aufzubauschen
was habe ich denn gemacht . . .
4
Frau Doktor gewöhnt
sich zu verstecken
stand eine Weile
hinter den Rosenhecken
und als sie Bettina
und Hildebrand schaut
überzieht sie sich ganz
und gar mit Gänsehaut
"Betti pfui schäm dich!
mit deiner Zunge
zu küssen zu schlecken
den Puppenjunge!"
Bettina erschrocken
stopft den Hildebrand
ins Blumenbeet und
tief in den Sand
was habe ich denn gemacht . . .
5
Frau Doktor klagt und zetert:
"Betti du bist ja entartet!
ach deine arme Mutter
die gerade ein Baby erwartet!"
und der Herr Lehrer packte
das schuldlose Puppenkind
und eilte mit ihm hinüber
zum Puppendoktor geschwind
"Herr Doktor dieser Rüpel
der bringt mich noch ins Grab
schneiden Sie ihm doch bitte
sofort dieses Ding da ab!"
und zu Betti: "was heulst du
wie eine kleine Wilde?
aus deinem Hildebrand
wird eben eine Hilde!"
was habe ich denn gemacht . . .
6
seitdem fing Bettina an
alles und jeden zu hassen
tagtäglich zerwirfte sie
Teller und Tassen
die Mutter schlägt mit
der Stirn an die Scheibe
und sagt "Bettina
hat den Teufel im Leibe"
der Vater kann Kinder-
schmerz nicht ermessen
er selber hatte Hilde-
brand längst vergessen
"warum lachst du nicht
und singst keine Lieder
für deine Mutter?
sie kommt bald nieder!"
was habe ich denn gemacht . . .
7
wer huscht durch Nachbars
Blumenbeete und Hecken
um die öde Puppenpraxis
bei Nacht zu entdecken?
wer klebt mit der Nase
am staubigen Werkstattfenster
und begutachtet dort
die blassen Puppengespenster?
Bettina bewundert
voller Entzücken
die Augen die Stimmchen
und die Perücken
Nähzeug und Zangen
kleine Messer Pinzetten
"ach wenn wir doch auch
solche Werkstatt hätten!"
was habe ich denn gemacht . . .
8
Bettina klettert leise
ins leere Gartenhaus
und sucht sich eine Zange
und zwei Messerchen heraus
welche Freude! Bettina
singt und trällert wieder
denn ihre Mutter kam
mit einem Brüderchen nieder
sie schleicht und trippelt
auf Zehnenspitzen heim
dort oben der weiße Mond
flüstert "laß sein, laß sein!
wirf schnell die Zange
und die Messerchen weg!"
trotzdem hat Bettina alles
in ihrem Zimmer versteckt
was habe ich denn gemacht . . .
9
die Mutter sagt "Bettina
uns leuchtet neues Licht
jeder von uns beiden
hat nun seine Pflicht
du trägst deine Hilde
stolz und sicher im Arm
und ich halte den Christian
in seinem Bette satt und warm"
doch kaum ist die Mutter
ein paar Schritte gegangen
sieht man Bettinas Hände
nach Christians Decke langen
"ich werde dir gleich helfen
du verdammtes Luder!
was machst du da eigentlich
mit deinem kleinen Bruder?"
was habe ich denn gemacht . . .
10
der Bruder schläft bei Betti
in ihrem Kinderzimmer
sie tappt um sein Lager
ohne einen Lichtschimmer
Sie preßt ihr dickes Kissen
dem Christian aufs Gesicht
"so magst du ruhig weinen
die Mutter hört es nicht."
Bettina tanzt und jubelt
ist lustig wie eine Biene
"Mutter ich habs geschafft
aus Christian ward Christine!"
die Mutter eilt ans Bettchen
das Blut tropft ihr in den Schuh
der Christian ist gestorben
seine liebe Seele hat Ruh
was habe ich denn gemacht
meine liebe Mutter?
ich träume jede Nacht:
du kämst mit einem Messer
und hättest mich umgebracht
Wer denkt
dass die Feindesliebe
unpraktisch ist
der bedenkt nicht
die praktischen Folgen
der Folgen
des Feindeshasses
Leider hat auch das folgende Gedicht nur 14 Zeilen. Aber es passt so gut in unsere Zeit.
Du liebe Zeit
Da habe ich einen gehört
wie er seufte: "Du liebe Zeit!"
Was heißt da "Du liebe Zeit?"
"Du unliebe Zeit" muss es heißen.
"Du unliebe Zeit"
von dieser Unzeit in der wir
leben müssen. Und doch
Sie ist unsere einzige Zeit
Unsere Lebenszeit
Und wenn wir das Leben lieben
können wir nicht ganz lieblos
gegen diese unsere Zeit sein
Wir müssen sie ja nicht genauso
lassen, wie sie uns traf
Erich Fried
in: Erich Fried - Gründe - Gedichte ausgewählt von Klaus Wagenbach,
Verlag Klaus Wagenbach
Oh, da habe ich übersehen, dass es mindestens 16 Zeilen lang sein muss.
Da muss ich wohl noch ein zweites Gedicht inzufügen.