Könnte man das Gedicht "Gefunden" von J.W. von Goethe auch der Epoche Romantik zu ordnen?

3 Antworten

Nun, natürlich wird Goethe im Allgemeinen der Klassik zugeordnet. Er selbst hätte sich dagegen verwahrt, als Romantiker bezeichnet zu werden, auch wenn er zeitlich durchaus noch gepasst hätte.

So eindeutig ist die Lage allerdings nicht. Er benutzt hier gezielt Topoi und Formulierungen der Romantik - die Verbindung von Blumen- und Todesmetapher ist ein typisches Motiv der Romantik. Man vergleiche etwa den Topos der "blauen Blume" oder die Totenkranz-Metaphorik in Brahms' Liedtexten. Bei Novalis finden sich ähnliche Bezüge.

Goethe pflegte gerade in seiner Spätzeit intensive Kontakte mit "romantischen" Schriftstellern. Er selbst lehnte die Romantik offensiv ab ("Klassik ist Gesundheit, Romantik ist Krankheit"), dennoch gibt es gute Gründe, einen Teil seines Werks als der Romantik zugehörig zu interpretieren. Die "Wahlverwandtschaften" etwa sind romantischer Roman in Reinform.

Dennoch konnte Goethe mit der Gefühlsbetontheit der Romantiker nicht viel anfangen. Er stand noch ganz in der Tradition der Aufklärung, auch außerhalb der Literatur. Selbst in der Politik tätig, war sein Kulturbegriff umfassender. Sein Aufsatz "Über das Farbensehen" gilt als einer der Klassiker der philosophischen Erkenntnistheorie, und Goethe war überzeugt, er habe den menschlichen Zwischenkieferknochen entdeckt (später erwies sich, dass Galen ihn bereits erwähnt hatte).

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung
gutifragerno  24.10.2022, 18:04

Was Goethes Gedicht allerdings fehlt, ist alles, was Richtung Sehnsucht und Unendlichkeit geht. Goethe brauchte eben das Abgerundete, das Happy End. Wichtig ist der Hinweis auf alles Kranke, das er nicht ausgehalten hat. Die Romantik setzte sich in dem Gefährlichen bis hin zum Untergang aus. Man denke etwa an den Umgang von Novalis mit dem Tod seiner Freundin und Goethes Distanz selbst zu seiner sterbenden Frau. Unsere heutige Vorstellung von Romantik ist weit entfernt von der Spannweite dessen, was es da um 1800 gab.

0
Stefan860  24.10.2022, 19:31
@gutifragerno

Da kann ich allerdings schwerlich widersprechen. Die Todessehnsucht eines Novalis wird man bei Goethe schwer finden. Ebensowenig die ständige Verbindung von Liebe und Tod. Das war nie Goethes Konzept.

1
gutifragerno  24.10.2022, 19:42
@Stefan860

Danke, man freut sich immer, wenn man nicht völlig falsch liegt. Andererseits ist der qualifizierte Widerspruch ja die einzige Möglichkeit, von den eigenen Irrtümer befreit zu werden. In dem Sinne freue ich mich demnächst auch über Widerspruch :-)

0