Kann mir jemand diese Karikatur erklären?

2 Antworten

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Die Karikatur ist in der wöchentlich/siebentägig erscheinenden französischen satirischen Zeitschrift „La charge“ (Untertitel: „journal satirique hebdomadaire“), 1. Jahrgang, 2. Serie, Nr. 22 („1re année, 2e série, n° 22“). 10. September 1870 auf der Titelseite (die nicht gedruckte Seitenzahl wäre 1) veröffentlicht worden.

Die Überschrift ist: „Le four du roi de Prusse par Alfred Le Petit“ (Der Ofen/Backofen des Königs von Preußen)

Der Maler und Karikaturist Alfred Le Petit (links unten steht seine Signatur „A. L. P.“) hat seine Karikaturen vor allem gegen Kaiser Napoleon III. gerichtet. Seine Einstellung war republikanisch. Er war Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift.

Der mit militärischer Unform gerüstete Mann rechts im Vordergrund ist durch die Aufschrift auf seinem Rücken als Bismarck angegeben. Durch die (unrealistisch überlange) Pickelhaube (»Helm mit Spitze») auf seinem Kopf und das Wappen an seinem Rücken (königlich-preußischer Adler; Adler als Wappentier mit Krone auf dem Kopf, in den Fängen Zepter und Reichsapfel haltend) ist er als Vertreter Preußen gekennzeichnet. Die lange Klistierspritze könnte ein Hinweis auf Gicht sein, unter der Bismarck litt, und die damit behandelt wurde.

Bismarck schiebt mit einem Ofenschieber ein großes Brot/einen großen Kuchen in Richtung auf den geöffneten Mund eines alten Mannes, von dem das Gesicht riesengroß sichtbar ist. Er hat starke Falten und einen mächtig wuchernden weißen Backen- und Schnurrbart. Das Aussehen und die Bildüberschrift lassen ihn als Wilhelm I., König von Preußen, erkennen.

Rechts im Hintergrund ist ein Adler zu sehen, der vor allem am Hals zerrupft und zerzaust wirkt und einen mitgenommenen Eindruck macht, bestürzt und anscheinend unfähig zum Eingreifen zuschauend. Er steht am Rand, ist verdrängt. Die Krone und der große Buchstabe N auf seiner Brust kennzeichnen diese Figur als Kaiser Napoleon III. Ein Adler war das Wappentier des von Napoleon III. gegründeten zweiten französischen Kaiserreiches, nach dem Vorbild seines Onkels Napoleon I.

Im 1870 ausgebrochenen Deutsch-Französischen Krieg hatten die französischen Truppen in der Schlacht von Sedan am 1. und 2. September 1870 eine schwere Niederlage erlitten und Kaiser Napoleon III. und das dortige französische Heer hatten sich ergeben.

Am 4. September war in Paris die Republik ausgerufen worden. Es wurde eine vorläufige Regierung eingerichet.

Das Brot/der Kuchen ist durch eine Aufschrift als Elsaß-Lothringen („ALSACE-LORRAINE“) gekennzeichnet. Elsaß und Lothringen waren längere Zeit Streitobjekte zwischen Deutschland und Frankreich. König Ludwig XIV. von Frankreich hat im 17. Jahrhundert die Gebiete unter fadenscheinigen Rechtsansprüchen an sich gerissen.

In Elsaß und Lothringen hatten 1870 bisher die meisten Kriegshandlungen staattgefunden, die Gebiete waren größtenteils von deutschen Truppen besetzt, eine Forderung nach einer Abtretung des Elsasses und Lothringens von Frankreich konnte von deutscher Seite erwartet werden, es gab Pläne zu einer Angliederung und für sehr viele Deutsche gehörten Elsässer und Ostlothringer wie selbstverständlich in einen deutschen Nationalstaat.

An einer aus dem Brot/Kuchen heraustretenden Stange hängt eine (im Original rote) phrygische Mütze (aus der Antike stammend, durch eine Deutung zu einem Freiheitszeichen geworden, in der Französischen Revolution [1789 – 1799] verbreitet und auch als Jakobinermütze bezeichnet) mit einer (im Original allem weißen, eventuell auch ein wenig blauen; es ergäben sich dann die französischen Nationalfarben) Kokarde (eine Bandschleife in Form einer Rosette, wurde während der Französischen Revolution verbreitet als Abzeichen an der Kopfbedeckung oder Kleidung in der Öffentlichkeit getragen). Unten erscheint die Aufschrift „VIVE LARÉPUBLIQU“ (Vive la République; Es lebe die Republik“). Es wird also auf eine republikanische Bewegung in Frankreich hingewiesen, die in der Tradition der Französischen Revolution (1789 – 1799) steht. Die vorläufige Regierung der ausgerufenen Republik wollte zunächst - anders als Kaiser Napoleon III. - weiteren Widerstand versuchen.

Auf der Karikatur ist Elsaß-Lothringen zu groß, um gut in den Mund des preußischen Königs hineinzupassen. Der Karikaturist Alfred Le Petit gibt eine Dastellung, als ob es Bismarck eher nicht gelingen wird, das große Brot/den großen Kuchen hinzuschieben. Er erwartet von einer republikanischen Regierung energischen Widerstand gegen eine Abtretung von Elsaß und Lothringen. Bismarck sieht gesundheitlich nicht topfit aus.

Bismarck in der Karikatur des Auslands. Auswahl, Einleitung und Kommentar von Heinrich Dormeier. Sammlung und Vorauswahl: Susanne Leiste, Marie - Louise von Plessen, H. Dormeier. Mitarbeit: Maria Berger. Übersetzung der Bildunterschriften: Leila Behrens, München (Ungarisch)/H. Dormeier, Berlin (Englisch, Französich, Italienisch, Niederländisch, Spanisch)/Martin Grass, Stockholm (Schwedisch)/Jürgen Ibs, Flensburg (Dänisch). Berlin : Nicolai, 1990, S. 48:

„Unter dem Banner der Republik, die den zerzausten »Adler«, das Wappentier Napoleons III., verdrängt hat (vgl. Nr. 34), soll die Abtretung französischer Landesteile verhindert werden. Bismarck, den Alfred Le Petit hier mit überlanger Pickelhaube und Klistierspritze darstellt, wird es nicht schaffen, den allzu großen Kuchen »Elsaß« und »Lothringen« in das kleine »Ofenmaul« seines Königs zu schieben.“

Hier geht es um Elsaß-Lothringen, das lange Zeit ein Zankapfel zwischen Deutschland (Bismarck), Frankreich (phrygische Mütze) war. Zeitpunkt ist der dt.-frz. Krieg 1870/71. Bismarck hatte Elsaß-Lothringen annektiert und wollte das dem dt. König Wilhelm I. (Der "Backofen" links) wohl schmackhaft machen. Aus der Vergangenheit schaut Napoleon [N mit Krone] hervor, der ja auch annektierte, was ging.

ChefAury 
Fragesteller
 04.04.2022, 20:24

Und wieso „schiebt“ er jetzt die Gebiete ihn ins Maul?

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