Ich habe nicht ganz verstanden wie Benjamin Constant Imannuel Kants Ansicht kritisiert hat? Kann es mir jemand erklären?

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Benjamin Constant wendet sich dagegen, eine absolute Pflicht, die Wahrheit zu sagen, aufzustellen.

Eine solche absolute Pflicht, also eine unbedingte, immer und in jedem Fall geltende, von den Umständen losgelöste Pflicht würde nach seiner Auffassung das menschliche Zusammenleben unmöglich machen.

Constant unternimmt einen Beweisversuch. Dieser stützt sich auf die Konsequenzen (Folgen), die eine absolute Wahrheitspflicht hätte. Er zeigt dies an einem Beispiel: Jemand hat einen Freund in seinem Haus aufgenommen, der Zuflucht suchte. Mörder, das heißt Menschen mit der Absicht, den Freund zu ermorden, fragen, ob dieser Freund sich im Haus aufhält. Bei einer absoluten Pflicht, die Wahrheit zu sagen, wäre geboten, den Aufenthalt des Freundes zu verraten, obwohl diesem dadurch ein unrechtmäßiger Tod droht. Eine Lüge wäre dagegen ein Verbrechen.

Bei Befolgen einer absolute Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würden also unter diesen Umständen schreckliche Folgen drohen. Wenn ein Mensch, der wahrheitsgemäß Auskunft über den Aufenthaltsort gibt, nicht die Macht hat, eine Ermordung zu verhindern, ist das Ergebnis ein Mord. Dies ist ein schwerer unrechtmäßiger Schaden. Das Ergebnis ist moralisch äußerst schlecht.

Constant beurteilt daher das Prinzip (den Grundsatz) einer von den Umständen losgelösten/unabhängigen („für sich genommen“) absoluten Pflicht, die Wahrheit zu sagen, als unanwendbar. Ähnlich wie Kant bezieht er sich darauf, ob das Prinzip allgemein gelten kam, allerdings auch in Bezug auf Folgen und inhaltliche Ergebnisse (bei Kant geht es darum, ob ein Grundsatz widerspruchsfrei als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft gedacht und gewollt werden kann). Eine absolute Wahrheitspflicht würde bedeuten, auf Nachfrage auch etwas zu verraten, was eine vertrauliche Information war und was zu schlechten Handlungen ausgenutzt werden kann. Daher kommt Constant zu dem Urteil: Ein Prinzip einer absoluten Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde die Gesellschaft zerstören.

Wenn andererseits ein Grundsatz der Ehrlichkeit ganz verworfen/abgelehnt wird, würde ebenfalls die Gesellschaft zerstört werden/zugrunde gehen (darin stimmt Constant mit Kant überein).

Constant bietet als Lösung an, die richtige Anwendung des Prinzips der Ehrlichkeit (nicht zu lügen) zu suchen und zu diesem Zweck das Prinzip zu definieren (genau zu bestimmen).

Der Gedanke einer Pflicht kann vom Gedanken eines Rechts nicht getrennt werden. Wo jemand eine Pflicht zu etwas hat, hat auch jemand ein Recht auf das, was Pflicht ist.

Constant bezieht dies auf eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Sie besteht nur gegenüber denen, die ein Recht auf Wahrheit haben. Auf eine Wahrheit, die einem anderen schadet (Constants Argumentation sollte genauer auf einen unrechtmäßigen Schaden bezogen werden) hat aber kein Mensch ein Recht. Bei der Anwendung eines Prinzips der Ehrlichkeit (nicht zu lügen) durch Aufstellen einer Pflicht darf es keine absolute Pflicht, die Wahrheit zu sagen, geben, sondern nur eine eingeschränkte Pflicht, nämlich einem Menschen die Wahrheit zu sagen, der ein Recht auf diese Wahrheit hat.

In Kants Schriften bis zu der Zeit steht kein solches Mörderbeispiel. Vielleicht hat Benjamin Constant etwas bei einem anderen Autor gelesen. Kant hat den Beitrag aber auf seine Auffassung bezogen und den Standpunkt verteidigt:

Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797)

Kant erklärt, es gehe genauer um eine Pflicht zur Wahrhaftigkeit (subjektive Wahrheit, keine objektive).

Kant bekräftigt: Bei Aussagen, die man nicht umgehen kann (unumgängliche Notwendigkeit; gar nichts zu sagen, wäre keine Lüge und also nicht pflichtwidrig), ist Wahrhaftigkeit Pflicht gegenüber allen, gleichgültig ob einem selbst oder andere daraus noch so große Nachteile entstehen. Eine Lüge wäre zwar kein Unrecht gegenüber denen, die jemand ungerechterweise zu einer Aussage nötigen, aber ein Unrecht, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird, weil dann Aussagen kein Glauben mehr geschenkt werden kann und alle Rechte, die auf Verträge gegründet sind, wegfallen und ihre Geltungskraft verlieren. Eine Lüge schade in jedem Fall der Menschheit überhaupt, weil sie die Grundlage des Rechts unbrauchbar macht. Nach Kants Urteil ist es ein unbedingt gebietendes, nicht einzuschränkendes Vernunftgebot, in allen Erklärungen wahrhaftig (ehrlich) zu sein.

Gegen einen Grundsatz »Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat«, wendet Kant ein:

1) Undeutlichkeit, inwieweit jemand dabei ein Recht auf Wahrheit hat

2) Pflicht der Wahrhaftigkeit als unbedingte Pflicht, die in allen Verhältnissen gilt (Pflicht der Wahrhaftigkeit macht keinen Unterschied zwischen Pflicht der Wahrhaftigkeit denen gegenüber die Pflicht besteht, und Personen, bei denen man sich von der Pflicht auch lossagen kann)

Kant hält Wahrhaftigkeit, bei der in der Folge ein Schaden herauskommt, für kein Unrecht und die Handlung, wahr auszusagen, für kein eigentliches Zufügen eines Schadens, der dem einen Schaden Erleidenden angetan wird. Den Schaden verursache ein Zufall (es gibt keine systematische Verbindung zwischen einem Grundsatz der Ehrlichkeit und dem für jemand nachteiligen Ergebnis, z. B. Ermordung).

Kant hält eine Lüge aus Menschenliebe formal für Unrecht, wenn auch inhaltlich nicht für Unrecht. Wahrhaftigkeit/Ehrlichkeit hält er für eine Rechtspflicht, bei der ihrem Wesen nach keine Ausnahme von der Regel möglich ist. Denn bei einer Ausnahme würde sich die Regel selbst widersprechen.

Nach Auffassung von Kant ist ein Gesetz seinem Begriff nach: unbedingt gültig/notwendig, objektiv und allgemein. Ein Grundsatz ist nach seiner Ethik wegen seiner Gesetzesförmigkeit moralisch gut. Kant hebt bei der Form des moralischen Gesetzes die Tauglichkeit/Eignung zu einem allgemeinen Gesetz (der Vernunft für vernünftige Wesen/vernunftbegabte Wesen) hervor. Dies ist nach seiner Auffassung nicht nur eine notwendige Bedingung eines guten Grundsatze, sondern auch eine hinreichende Bedingung.

Kant Auffassung, das formale Kriterium der Tauglichkeit/Eignung zu einem allgemeinen Gesetz sei eine hinreichende Bedingung, ist anfechtbar.

In dem Beispiel kann auch eine andere Pflicht beachtet werden, die in Kants Ethik vorkommt. Es gibt eine Pflicht zur Wohltätigkeit als Hilfe/Beistand für andere in der Not. Eine Handlungsweise, bei der nicht versucht wird, das Leben von jemand, der von unrechtmäßiger Tötung bedroht wird, zu schützen, wäre eine Verletzung der Pflicht. Einen Menschen ohne Rettungsversuch Mördern preiszugeben, kann nicht mit dem kategorischen Imperativ und praktischer Vernunft übereinstimmen.

ein wichtiger Gesichtspunkt: Kant nimmt an, eine Pflichtenkollision (Zusammenstoß/Zusammenprall einander widerstreitender Pflichten) könne nicht auftreten. Weil Kant eine Pflichtenkollision für ausgeschlossen hält, gibt es in seiner Ethik in diesem Fall keine Abwägung verschiedener Pflichten, bei der in dieser bestimmten Situation die Pflicht zur Hilfeleistung für einen Menschen in Not höherrangig eingestuft wird als ein Gebot, nicht zu lügen.

Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797). Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Einleitung in die Metaphysik der Sitten. IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (philosophia practica universalis). AA VI,

„Ein Widerstreit der Pflichten (collisio officiorum. s. obligationum) würde das Verhältnis derselben sein, durch welches eine derselben die andere (ganz oder zum Teil) aufhöbe. – Da aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken und zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich notwendig sein können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, sondern sogar pflichtwidrig: so ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar (obligationes non colliduntur).“