Wie begründet Hans Jonas die Verantwortung des Menschen für die Natur?

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Bei der Begründung einer Ethik mit Verantwortung des Menschen für die Natur stützt sich Hans Jonas auf eine Ontologie (Seinslehre).

Werturteile sind nach seiner Überzeugung vom Sein der betreffenden Dinge selbst abgeleitet und beruhen auf dem Verständnis der Dinge, nicht auf einem Gefühl.

Der Begriff «Zweck» ist bei der Argumentation sehr wichtig.

Textgrundlage:

Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung : Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. 1. Auflage. Frankfurt am Main : Insel-Verlag, 1979, S. 84 - 171

Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. 1. Auflage. Frankfurt am Main ; Leipzig : Insel-Verlag, 1992, S. 128 – 146 (Zweiter Teil. Zur Seins- und Sittenlehre. 6. Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik)

Der Gedankengang in seinen großen Schritten ist:

1) Versuch des Aufweisens einer objektiven Zweckhaftigkeit des Seins/der Natur in sich, unabhängig von menschlicher Deutung

2) Versuch, die Zweckhaftigkeit als ein Gut an sich/einen Wert an sich zu zeigen

3) Ableitung einer kategorischen Pflicht zur Erhaltung dieses Gutes/Wertes aus diesem Gut/Wert

Zweckhaftigkeit in der Natur

Hans Jonas vertritt als Grundannahme die Auffassung, es gebe in der Natur die Erfüllung von Zweckhaftigkeit, eine Zielausrichtung auf die Selbsterhaltung und das Nutzen von Möglichkeiten zur Weiter- und Höherentwicklung, eine dem Ganzen innewohnende Selbstbejahung. Bei dem Zweck, wozu etwas da ist oder geschieht, sei der Sachverhalt der Zweckerfüllung unabhängig von subjektiver Setzung/Beurteilung/Überzeugung.

Definition von Zweck: Zweck ist das, um dessentwillen eine Sache existiert und zu dessen Herbeiführung oder Erhaltung ein Vorgang statfindet oder eine Handlung unternommen wird.

Das Sein (oder die Natur, als reales Sein) ist eines (eine Gesamtheit, bei der bestimmte Eigenschaften in allen Teilen vorhanden sind) und legt in dem, was es aus sich hervorgehen läßt, Zeugnis von sich ab.

Eine Wirksamkeit von Zwecken kann sowohl unter Bedingungen des Willkürlichen als auch unter Bedingungen des Unwilkürlichen festgestellt werden.

Willkürliche (von einem Willen, der eine Absicht verfolgt, bestimmte) Körperbewegungen des Menschen (z. B. ein Gehen) haben ein Ziel. Vom Menschen als dem offenbarsten, entwickelsten und vollsten Zeugnis, das die Natur von sich ablegt, wird mit Induktion (Folgerung vom Einzelnen auf etwas Allgemeines) und mit Analogie (Entsprechung, Ähnlichkeit, Gleichheit von Verhältnissen) auf die Natur auch im Bereich des Unwillkürlichen geschlossen.

Im Sein und damit in der Natur ist Zweckhaftigkeit immanent (innewohnend).

Zweckhaftigkeit als Wert an sich

Indem die Natur Zwecke/Ziele hat, setzt sie auch Werte. Der Unterschied zwischen gut und schlecht ergibt sich aus Erreichen und Nicht-Erreichen/Verfehlen des erstrebten Zwecks/Ziels.

Werte werden von Zwecken abgeleitet. Der Wert bezeichnet die Tauglichkeit für das Erreichen von Zwecken. Das Bestehen von Zwecken ermöglicht die Unterscheidung von Gut (= Wert) und Übel. Erreichen des Zwecks ist ein Gut, Verhinderung des Zwecks ein Übel.

Damit wäre ein Zweck allerdings erst einmal bloß ein subjektiver Wert. Zweckhaftigkeit/überhaupt Zwecke zu haben ist aber mehr, ist Bedingung der Möglichkeit von Gutem (ohne Zweckhaftigkeit kann es nichts Gutes geben).

Zweckhaftigkeit ist ein Gut an sich und damit ein Wert an sich (objektiver Wert). Zweckhaftigkeit entfaltet in einzelnen Zwecken einen normativen Anspruch auf Wirklichkeit. Etwas an sich Gutes hat einen ihm innewohnenden Anspruch auf seine Wirklichkeit. Das Gute oder Wertvolle enthält seinem Begriff nach das, dessen Möglichkeit zur Forderung nach seiner Wirklichkeit und damit zu einem Sollen wird, wenn ein Wille da ist, der diese Forderung vernehmen und in Handeln umsetzen kann. In der vorbewußten Natur vorfindbare Zwecke haben nur hypothetischen Wert, sind nur hypothetisch (unter der Voraussetzung eines Zweck-Mittel-Verhältnisses) gut, nicht an sich gut. Sie begründen kein moralisch relevantes Sollen. Denn Zwecke, die sich nur in instinkt-und triebgesteuertem Verhalten zeigen, können keine moralische Verbindlichkeit beanspruchen.

Der Wert des Guten gründet letztlich darin, den Zweck als der Zwecklosigkeit überlegen zu verstehen, dem Sein Vorrang vor dem Nichts zu geben (Sein ist besser als Nichtsein). Diese Wahl könne nicht weiter ausgewiesen werden, sondern sei eine von sich selbst her einleuchtende unmittelbare Anschauung (Intuition). Hinter diese Selbstevidenz könne auf keine Weise zurückgegangen werden.

Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung : Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. 1. Auflage. Frankfurt am Main : Insel-Verlag, 1979, S. 145: „In der Fähigkeit, überhaupt Zwecke zu haben, können wir ein Gut-an-sich sehen, von dem intuitiv gewiß ist, daß es aller Zwecklosigkeit des Seins überlegen ist.“

Das Sein hat zumindest sich selbst zum Zweck und bejaht sich selbst.

Pflicht (Sollen) zur Erhaltung des Werts an sich und zur Möglichkeit seiner Verwirklichung

Die Selbstbejahung des Seins wird in das menschliche Wollen übernommen und gleichzeizig das Nicht-Sein zurückgewiesen.

Wollen wird zu Sollen, wenn der Gegenstand der Mühe gut ist, unabhängig vom dem, was Menschen bloß nach indviduellen Neigungen befinden.

Ein Subjekt wird von einem Gegenstand in einer Situation angerufen, in der die Verwirklichung der Erhaltung dieses Guten durch dieses Subjekt konkret in Frage steht. Natur hat aufgrund der ihr innewohnenden Zweckhaftigkeit einen Eigenwert und damit ein Eigenrecht. Daraus ergibt sich ein Anspruch auf Achtung.

Menschen haben Willensfreiheit. Der Zweck wird nicht automatisch und zwangsläufig in den Willen aufgenommen. Die Entscheidung kann für oder gegen das Gute ausfallen. Der Mensch ist verpflichtet, die Sollensforderung in seinen Willen aufzunehmen. Das Gute kann die Anerkennung auslösen, seine Umsetzung sei als Pflicht geboten. Der Mensch gehorcht nicht unbedingt dem, was innerlich als anzuerkennende Verpflichtung vernommen wird. Dies ruft dann Schuldgefühle hervor, dem Guten das, was ihm zusteht, nicht gegeben zu haben, eine Pflicht nicht erfüllt zu haben. Die Übernahme des Sollens wird durch das Verantwortungsgefühl des Menschen geleistet.

Die wichtigste Forderung an den Menschen richtet sich auf den Menschen, nämlich auf die Idee des Menschen/Idee der Menschheit.

Durch die Existenz der Menschheit wird eine auch in Zukunft bestehende, die augenblickliche Realität übersteigende Möglichkeit einer Verwirklichung von etwas, das ein Eigenwert ist, offengehalten. Aufgrund ihrer Innerlichkeit und Freiheit sind die Menschen zu Verantwortung fähig. Sie stehen damit innerhalb der Natur an der Spitze. Ohne Träger von Verantwortung kann es im Kosmos keine Verantwortung geben. Die Menschen sollen eine Bejahung des Seins in ihr eigenes Wollen als Treuhänder gegenüber dem, worüber sie Macht haben, übernehmen.

Die Möglichkeit der Existenz von Verantwortung ist Grundlage, Ursache und allem vorausliegende Bedingung für alles, was Gegenstand allgemeiner menschlicher Verantwortung werden kann.

Es gibt eine Ansprechbarkeit des jeweiligen subjektiven Wollens für das mögliche An-Sich-Gute in der Welt. Sie zeigt die Menschen als der Möglichkeit nach moralische Wesen. Ein Appell wird vom Gefühl der Verantwortlichkeit beantwortet, das dem objektiven Gebot subjektive Wirksamkeit verleiht.

Der Mensch ist das einzige Wesen, das Verantwortung übernehmen kann. Aus diesem Können folgt bei Hans Jonas ein Sollen. Die Menschheit ist zur Existenz und zu einer bestimmten Qualität des Lebens (Wohlergehen und Glück gehören dazu) verpflichtet. Die Menschen stehen in einem Treueverhältnis zur Welt. Träger von Verantwortung sind verpflichtet, das Dasein künftiger Verantwortungsträger zu ermöglichen.