Trolley-Problem / Straßenbahndilemma?

1 Antwort

Hallo,

das ist wirklich eine sehr interessante Frage, was andere Philosophen zu Foots Trolley-Problem gesagt hätten.

Bentham (Konsequentialismus):

Bei Bentham schätze ich die Sache ebenso ein, wie du.

In jeder konsequentialistischen Konzeption der Moral zählt ja in erster Linie das zu erwartende Ergebnis einer Handlung. Da der Tot eines Menschen ein geringeres Übel ist, als der Tod von fünf Menschen, dürfte grundsätzlich jeder Konsequentialismus darauf hinaus laufen, dass die Weiche gestellt werden soll.

Aristoteles (Tugendethik):

Bei Aristoteles ist die Frage besonders schwierig zu beantworten. Vielleicht kann man die Frage hier auch gar nicht beantworten. Der Grund liegt darin, dass der moralische Imperativ in einer Tugendethik nicht lautet "Handle stets so, dass...!" (wie bei Bentham oder Kant), sondern "Erwerbe dir Tugenden!".

Die Schwäche einer reinen Tugendethik wird hier offensichtlich: Aus ihr lassen sich oft keine konkreten Handlungsanweisungen ableiten. Allerdings hat eine Tugendethik auch eine gewisse stärke, wenn man sie auf das Trolley-Problem anwendet: Angenommen man steht wirklich in San Francisco vor der beschrieben Situation, hätte man ohnehin nicht besonders viel Zeit um moralphilosophische Reflexionen durchzugehen; es wären nur wenige Sekunden, in denen man handeln könnte. Die Tugendethik zielt darauf ab, bestimmte innere Haltungen einzuüben, um in der konkreten Situation richtig zu handeln. Diejenige Tugend, auf die es nach Aristoteles hier ankäme, wäre die Klugheit (φρονεσις). Die φρονεσις ist zwar eine Verstandestugend, aber sie ist dennoch in erster Linie praktisch. Sie ist quasi die richtige Intuition, um in einer schwierigen Situation, in der man keine großen theoretischen Reflexionen anstellen kann, richtig zu handeln.

Die Antwort des Aristoteles würde dementsprechend lauten: "Erwerbe dir Klugheit! Dann wirst du in dieser Situation intuitiv gut handeln."

Kant (deontologische Ehtik):

Ich bin mir nicht sicher, ob Kant das Problem - Töten, um zu Retten - in der Metaphysik der Sitten ausdrücklich behandelt. Aber allein vom Kategorischen Imperativ (KI) aus, wie wir ihn in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) und in der Kritik der praktischen Vernunft finden (KpV), lässt sich die Frage eindeutig beantworten.

Am einfachsten haben wir es, wenn wir die sogenannte Menschenzweckformel des KI aus der GMS betrachten: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals als bloßes Mittel brauchst." Hieraus wird klar: Die Weiche darf nicht gestellt werden. Würde man die Weiche stellen, dann würde man den einen getöteten Menschen nämlich als Mittel benutzen, um einen von ihm verschiedenen Zweck zu erreichen. Dass dieser Zweck im Retten von fünf anderen Menschen besteht, ist dabei unerheblich.

MomoPauli 
Fragesteller
 22.01.2018, 13:20

Klasse, Dankeschön! Eine weiterführende Frage wäre: Wie sieht es mit dem Glück für die meisten aus? Laut Bentham soll durch die Handlung das Glück der meisten erreicht werden und dementsprechend das Ergebnis der Handlung gewichtet werden. Kann man das bei Kant und Aristoteles auch behaupten? Das Glück der meisten würde ja bei Aristoteles durch das tugendhafte Handeln aller größtmöglich erreicht werden?! Bei Kant ist das schon schwieriger, oder? Hier würde ich sagen, dass Kant an die Stelle des Glücks die "Würdigkeit zum Glück" setzt, die man erst durch handeln nach dem KI erhält. Doch was heißt das für das Glück der meisten? Wenn jeder nach dem KI handelt, so kann die Masse das größtmögliche Glück erreichen???

Ich hoffe die Frage und Überlegung macht Sinn und der Gedankengang ist nicht ganz falsch...

Ich freue mich über Antworten und über gemeinsames philosophieren :)

Dankeschön

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Gruenkohl28  23.01.2018, 00:24
@MomoPauli

Bitte!

Aristoteles:

In der Nikomachischen Ethik sehe ich schon eine gewisse Tendenz zum Allgemeinwohl. Das gute Leben besteht nach Aristoteles für den Menschen im politischen Engagement + ein kleines Bisschen philosophische Betrachtung. Die Tugenden zielen darauf ab, das richtige Mittelmaß zwischen dem eigenen Wohlergehen und dem Wohl der gesamten Polis zu finden. Beispielsweise besteht die Freigiebigkeit darin für die Finanzierung der öffentlichen Aufgaben zu spenden. Wer die Tugend der Freigiebigkeit nicht hat, ist entweder geizig (spendet zu wenig) oder verschwenderisch (spendet zu viel). Die Tugend der Tapferkeit besteht darin sich im Kampf zu bewähren und sein Leben für die Polis zu riskieren. Wer nicht tapfer ist, der ist entweder feige (er riskiert zu wenig) oder tollkühn (er riskiert zu viel).

Allerdings hat diese Gemeinwohlorientierung sehr enge Grenzen. Die marxistische Kritik bezeichnete Aristoteles durchaus nicht zu Unrecht als Ideologen einer "Sklavenhaltergesellschaft". Es ist nach Aristoteles unmöglich, dass die Mehrheit der Menschen (geschweige denn alle Menschen) ein gutes Leben führen. Zum guten Leben gehört Aristoteles zufolge ein gewisses Mindestmaß an Wohlstand und genug Freizeit, um sich politisch engagieren zu können und philosophische Betrachtungen anzustellen. Damit wenigstens ein paar wenige Menschen dieses gute Leben führen können, braucht es notwendig Sklavinnen und Sklaven, die nicht glückseelig werden können, weil sie nicht frei sind. Auch die meisten freien Bürger können nicht wirklich glückseelig werden, weil sie selbst zu viel für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen und deshalb nicht genug Freizeit für politische Ehrenämter haben. Frauen zählten für Aristoteles nicht einmal als vollwertige Menschen... "Glück für die meisten" ist bei Aristoteles also Fehlanzeige.

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Gruenkohl28  23.01.2018, 00:59
@MomoPauli

Kant:

Wie gesagt, "größtmögliches Glück" ist keine Norm in der Moralphilosophie Kants. Weder "größtmögliches Glück" für einen selbst, noch für möglichst viele, sind normgebend.

Aber klar, wie du sagst: Wenn alle, immer nur nach dem KI handeln würde, wäre das Leben auf unserer Welt absolut leckoschinski-geilomat.Wenn die Menschen moralisch gut wären, hätte es die größten Katastrophen der letzten 100 Jahre nicht gegeben - keine Weltkriege, keine Völkermorde, weder Stalinismus oder Maoismus, noch Faschismus, weder Atombomben auf Japan, noch Napalm auf Nordvietnam oder Giftgas im Iran. Auch der Klimawandel wäre längst aufgehalten, weniger Hunger, weniger Armut, weder Prostitution, noch Menschenhandel, wir hätten Globalisierung ohne Ausbeutung... In seiner Religionsschrift nennt Kant dies "das Reich Gottes auf Erden".

Das mit der Glückswürdigkeit hat, so wie ich das sehe, eine andere Funktion in der praktischen Philosophie Kants: Die meisten Menschen, wenn nicht sogar alle, sind radikal böse. Wenn sich jedoch jemand entschließen sollte, seine radikal böse Gesinnung zu verlassen und fortan nur noch nach dem KI zu handeln, müsste man davon ausgehen, dass sein Leben (obwohl er eigentlich glückswürdig wäre) alles andere als angenehm werden würde. Selbst wenn wir diesen Extremfall nicht beachten, dann lassen sich viele moralische Konflikte finden, in denen man seiner eigenen Glückseeligkeit aufs höchste schadet, wenn man moralisch handelt - z.B. wenn man als Zeuge gegen das organisierte Verbrechen aussagen soll; wenn man sich auf die Seite des Mobbingopfers stellt; wenn Polizisten gegen Kollegen aussagen sollen... Wenn sich unser Wirtschaftsminister entschließen würde fortan zumindest in seiner Amtsführung öfter nach dem Moralgesetz zu handeln, würden ihm Pharmalobby, Automobilindustrie, Waffenindustrie und andere Gruppen die Hölle heiß machen...

Kants Konzeption der Moral ist ja viel extremer, als z.B. der Utilitarismus oder die Ethik des Aristoteles. Der KI lautet ja nicht "Handle meistens nach derjenigen Maxime, von der..." sondern "Handle immer..." Irgendwann steht jeder mal vor einer Situation, in der das unangenehme Konsequenzen haben würde.

Als endliche Vernunftwesen, die zugleich der Naturordnung angehören, können wir jedoch gar nicht anders, als nach unserer eigenen Glückseeligkeit zu streben. Die Vernunft scheint, wenn man Kants Moralphilosophie folgt, etwas unmögliches zu gebieten. Daher muss Kant sagen, dass derjenige, der moralisch handelt immerhin glückwürdig wäre, obwohl es von der Erfahrung her wahrscheinlich ist, dass dies meistens seiner faktischen Glückseeligkeit schadet. Deshalb folgt aus Kants Konzeption der Moral notwendig das Postulat eines "allmächtigen und allwissenden Gesetzgebers" (=Gott), damit man überhaupt hoffen kann, dass Glückswürdigkeit und Glückseeligkeit sich einander doch noch irgendwie entsprechen können und die ganze Moral nicht in sich selbst kollabiert.

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