,,Kerker“, ,,Grabmal der Seele“ (Platon, Sokrates)?

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Der Hintergrund solcher Bezeichnungen ist eine Deutung des Menschen als eine Zusammensetzung aus zwei grundlegend verschiedenen Wesenheiten, ein Leib-Seele-Dualismus. Der Mensch ist nach dieser Auffassung aus einem materiellen Bestandteil, dem Körper, und einem immateriellen Bestandteil, der Seele (mitsamt Geist/Vernunft; die Seele wird als Sitz von Geist/Vernunft verstanden, sie ist an Denken, Fühlen und Wollen beteiligt), zusammengesetzt.

Die unsterbliche Seele tritt zeitweise in einen bestimmten Körper ein, bis zum Tod des Menschen.

Die Seele ist dem Göttlichen, Unsterblichen, geistig/mit der Vernunft Erfassbaren, Eingestaltigen, Unauflöslichen und immer Gleichbleibenden ähnlich, der Leib dem Menschlichen, Sterblichen, Nicht-Vernünftigen, Vielgestaltigen und Auflösbaren ähnlich (Platon, Phaidon 67). Die Natur bestimmt den Körper zum Dienen und die Seele zum Herrschen (Platon, Phaidon 80). Der Körper bindet nach diesem Verständnis die Seele an Sinneswahrnehmungen und Triebe, hält sie wie ein Gefängnis eingeschlossen und gefesselt, ist ein Hindernis bei Erkenntnissen (vgl. Platon, Politeia 514 a – 517 a, das »Höhlengleichnis« mit den in einer Höhle eingeschlossenen gefesselten Gefangenen, die für das Verhaftetsein an bloße Sinneswahrnehmung stehen), wendet die Seele von ihrer göttlichen Heimat und ihrem wahren Wesen ab. Wenn die Seele sich möglichst vom Leib absondert, gilt dies als Reinigung und Befreiung von Banden/Fesseln des Leibes.

Platon, Gorgias 493 erklärt die Dialogfigur Sokrates unter anderem, von einem der klugen/kundigen/weisen Leute gehört zu haben, dass der Leib Grabmal der Seele ist (τὸ μὲν σῶμά ἐστιν ἡμῖν σῆμα).

Platon, Werke : Übersetzung und Kommentar. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz herausgegeben von Ernst Heitsch, Carl Werner Müller und Kurt Sier. Band 6, 3: Joachim Dalfen, Platon, Gorgias : Übersetzung und Kommentar. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, S. 64:

„Denn ich habe das auch schon von einem Weisen gehört, dass wir jetzt tot sind und dass der Körper für uns ein Grab ist und dass der Teil, der Seele, in dem die Wünsche sind, so ist, dass er sich umstimmen lässt und umfällt, mal nach oben und mal nach unten.“

Platon, Kratylos 400 c wird eine Darstellung der Wortherkunft erwähnt, die Körper/Leib (griechisch: σῶμα [soma]) in Bezug auf die Seele als Grab(mal) (griechisch: σῆμα [sema]) deutet und als Gefängnis/Kerker (griechisch: δεσμωτήριον [desmoterion]) versteht. In der griechischen Sprache klingen σῶμα und σῆμα ähnlich, nur ein Buchstabe/Laut weicht ab.