Aristoteles, Nikomachische Ethik, wichtige Frage! Philosophie!

2 Antworten

Es ist angebracht, nicht als selbstverständlich und außerhalb jedes Zweifels stehend davon auszugehen, daß es ein Beispiel gibt.

Wenn die von Aristoteles vertretene Lehre von der Mitte richtig verstanden wird, ist es meines Erachtens nicht möglich, immanent (innerhalb des gedanklichen Ansatzes bleibend) ein überzeugendes Beispiel aufzuzeigen, daß eine als rechte/richtige Mitte aufgefundene Tugend nicht als richtig/tugendhaft/das Rechte bezeichnet werden kann. Möglich ist eine solche Beurteilung nur von einem grundlegend anderen ethischen Ansatz her.

Die Lehre von der Mitte (μεσότης [mesotes]) bezieht sich die Tugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters, nicht die des Verstandes. Aristoteles versteht Charaktertugend allgemein und die einzelnen Tugenden/Vortrefflichkeiten als richtige Mitte, die zwischen einem Zuviel (Übertreibung/Übermaß) und einem Zuwenig (Zurückbleiben/Mangel) liegt. Die Tugenden/Vortrefflichkeiten haben einen Bezug zu Affekten (Leidenschaften), die mit Lust und Lust/Schmerz verbunden sind (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 2; 2, 4; 2, 5).

Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 6, 1106 b 36 – 1107 a 8:  

„Die Tugend/Vortrefflichkeit (ἀετή [arete) ist also eine wählende/vorsätzliche Haltung/Einstellung (ἕξις [hexis]; lateinisch: habitus), die in der auf uns bezogenen Mitte liegt, die durch vernünftige Überlegung bestimmt ist, und zwar durch die, mittels derer der Kluge die Mitte bestimmen würde. Sie ist aber Mitte von zwei Schlechtigkeiten, einer des Übermaßes und einer des Mangels. Und ferner ist sie insofern Mitte, als die Schlechtigkeiten teils hinter dem, was in den Leidenschaften und Handlungen sein soll, zurückbleiben, teils darüber hinausschießen, die Tugend/Vortrefflichkeit aber das Mittlere sowohl findet als auch wählt. Daher ist die Tugend/Vortrefflichkeit nach ihrer Wesenheit/Substanz (οὝσία [ousia]) und ihrem Begriff, der angibt, was sie ist, Mitte, hinsichtlich des Besten und des Guten aber Äußerstes/Höchstes.“

Die Mitte (μεσότης) bei Aristoteles ist eine innere Haltung/Einstellung (denkbar ist, sie als eine Verhaltensdisposition zu bezeichnen), die auf ein richtiges Verhältnis zu Affekten (Leidenschaften) ausgerichtet ist und das in einer Lage angemessene Verhalten. Sie ist nicht mit Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit zu verwechseln, worauf volkstümliche Vorstellungen über einen goldenen Mittelweg (lateinisch: aurea mediocritas) leicht hinauslaufen. Sie ist auch nicht etwas, das für alle und immer stets quantitativ genau das Gleiche ist: Die Mitte der Sache hat den gleichen Abstand von den beiden Extremen und ist für alle Menschen ein und dasselbe (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 5, 1106 a 29 - 31). Das Mittlere in Bezug auf die Menschen (auf uns) ist dagegen weder zuviel noch zuwenig, dies aber nicht für alle als ein und dasselbe (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 5, 1106 a 31 - 32).

Bei der Gerechtigkeit gibt es eine gewisse Abweichung vom Schema: Wie Aristoteles selbst darlegt (Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 9, 1133 b – 1134 a), ist Gerechtigkeit eine Mitte der Sache, nicht eine Mitte „für uns“. Gerechtigkeit ist nicht etwas, das bei Steigerung falsch ist, sondern die von der Mitte der Sache abweichenden Extreme sind jeweils Ungerechtigkeit. Dies ist kein grundsätzliches die Richtigkeit der Lehre von der Mitte widerlegendes Argument, sondern eines gegen die starke Betonung der Mitte durch Aristoteles; Mitte zu sein, ist eine Erscheinungsform bei den Charaktertugenden, aber das entscheidende Wesensmerkmal ist das Angemessene und nach der praktischen Vernunft/Klugheit (φϱόνησις [phronesis]; verbindet ein Wissen über allgemeine Prinzipien mit umsichtiger und geschickter Anwendung im Einzelfall) Richtige.

Aristoteles legt dar, daß es nicht alle Handlung und Affekte (Leidenschaften) zulassen, daß sie eine Mitte aufnehmen (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 6, 1107 a 9 – 21). Manche Affekte (z. B. üble Schadenfreude, Unverschämtheit, Neid) und manche Handlungen (z. B. Ehebruch, Diebstahl, Mord) sind unter sprachlichem Gesichtspunkt schon als schlecht bezeichnet und sind an sich eine Verfehlung. Von dem, was durch sich selbst schlecht ist (z. B. ungerecht sein, feige sein, zügellos sein), gibt es nicht rechte Mitte, Übermaß und Mangel.

Eine rechte/richtige Mitte eines Zuviel oder Zuwenig bilden zu wollen, ist widersinnig. Einen Vorwurf zu erheben, jemand sei nicht ausreichend ungerecht oder nicht ausreichend feige, ist ethisch völlig verfehlt und absurd.

Bei dem, was Aristoteles nennt, sind Ausnahmen denkbar, z. B. ein Tyrannenmord. Aristoteles bezieht die Charaktertugenden aber eher auf Handlungsbereiche (z. B. Handlungen im Bereich von Gefahren/dem, das Schrecken hervorrufen kann) und er verbindet sie mit bestimmten Affekten (z. B. Zuversicht und Furcht).

Albrecht  21.04.2015, 07:38

Eine eigene Tugend/Vortrefflichkeit des (unternommenen oder unterlassenen) Tyrannenmordes aufzustellen, erscheint sachlich wenig geeignet, weil ein Bezug auf einen bestimmten einheitlichen Affekt fehlt. Das Verhalten könnte unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit erörtert werden. Der Sache nach ist das Gerechte die Mitte und das Ungerechte Extrem sowohl des Zuviel als auch des Zuwenig. Was ansonsten herangezogen werden kann, hängt von Beweggründen ab (danach richtet sich, zu welchen Affekten Bezug besteht). Wenn es um Mut/Zuversicht und Furcht geht, ist Tapferkeit die richtige Mitte und Feigheit zuwenig. Wenn es um Zorn geht, ist Sanftmut (πϱαότης [praotes]) in einem lobenswerten Ausmaß (sich nicht unvernünftig von Zorn hinreißen lassen, aber auch nicht alles hinnehmen) die richtige Mitte, Stumpfsinnigkeit/knechtische Gesinnung der Mangel/das Zuwenig (vgl. die Darstellung bei Aristoteles, Nikomachische Ethik 4, 11).

Einen abweichenden Ansatz zum Zorn haben z. B. die Stoiker vertreten, nach denen Zorn grundsätzlich eine Verirrung und verfehlt ist. Aristoteles könnte dagegen argumentieren und berechtige Empörung als angemessen darstellen.

Eine Tugend des geselligen Umgangs, die auf heitere Unterhaltung bezogene Gewandtheit/Witzigkeit als Mitte zwischen Possenreißerei und Griesgrämigkeit (Aristoteles, Nikomachische Ethik 4, 14) hält vielleicht nicht jeder für moralisch von Belang. Bei Aristoteles fügt sich aber dies in eine Glücksethik (Eudaimonismus) ein.

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Es geht um Eigenschaften des Menschen, nicht um irgendwelche Taten. Die Mitte zwischen "makellos gut" und "abgrundtief schlecht" wäre "leidlich gut" oder "gut mit Abstrichen" - eine Eigenschaft, die uns nicht besonders beeindruckt. Oder: Heilig und sündhaft; die Mitte wäre ein Mensch mit leichten moralischen Schwächen. Man würde diese "mittlere" Art auch nicht als vorbildlich bezeichnen.