Ist Sex nicht eigentlich ziemlich primitiv?

14 Antworten

"Primitiv" gibt es in der Evolution nicht. Die Evolution ist ein Prozess, der ohne einen bestimmten Plan zu verfolgen abläuft. Es ist völlig egal, ob ein Lebewesen "primitiv" oder fortgeschritten ist - entscheidend ist am Ende immer nur, wie erfolgreich eine Art an ihre Umwelt angepasst ist. Deshalb sind so einfache Lebensformen wie Bakterien immer noch höchst erfolgreiche Organismen.

Davon abgesehen ist die menschliche Sexualität im Tierreich durchaus etwas Einzigartiges und, wenn man so will, "fortschrittlich" und keineswegs "primitiv". Ich würde sogar sagen, dass unsere Sexualität für die menschliche Evolution ebenso bedeutend war und ist, wie die Fähigkeit der Sprache, der aufrechte Gang und der Umgang mit Feuer.

Die große Besonderheit an der menschlichen Sexualität ist, dass sie vom ursprünglichen Zweck, nämlich der Fortpflanzung, losgelöst ist und völlig neue Funktionen erfüllt. Das wird allein dadurch deutlich, dass wir Sex miteinander haben ganz unabhängig vom Zyklus der Partnerin, also auch, wenn sie gerade keinen Eisprung hat, sie also gar nicht schwanger werden kann. Mehr noch, wir versuchen sogar durch Einsatz von Kondom, Pille und Co. eine Schwangerschaft gezielt zu verhindern - was uns aber trotzdem nicht davon abhält, fleißig und gerne miteinander zu schlafen.

Welche andere Funktion Sex heute erfüllt, wird deutlich, wenn man sich einmal das Sexualverhalten der Bonobos (Pan paniscus) ansieht, das unserem stark ähnelt. Neben den Schimpansen (Pan troglodytes) zählen sie zu unseren engsten Verwandten. Auch sie haben Sex nicht nur, um sich zu paaren. Bei ihnen erfüllt der Sex eine ganz wichtige soziale Funktion, er hat sich nämlich zu einem Mittel entwickelt, mit dem die Bonobos soziale Spannungen in der Gruppe abbauen und Konflikte bewältigen,ist also elementarer Bestandteil der Versöhnungs- und Entspannungspolitik (im Unterschied zu Schimpansen, die ihre Konflikte häufig gewaltsam lösen). Wo immer eine Art in einem Sozialverband lebt, sind soziale Spannungen vorprogrammiert, z. B. Streit ums Futter etc. In Sozialverbänden ist der Einzelne aber auf die gesamte Gruppe angewiesen, deshalb erfordert das Sozialleben immer auch Mechanismen, die das soziale Miteinander regeln und die es möglich machen, sich nach einem Streit wieder zu versöhnen.

Das war und ist beim Menschen nicht anders als bei Bonobos. Vielleicht waren unsere frühen Vorfahren sogar noch stärker auf das Überleben der ganzen Gruppe angewiesen. Es muss sich also auch bei unseren Vorfahren ein Mittel entwickelt haben, mit dem soziale Konflikte friedlich gelöst werden konnten. Diese Aufgabe hat auch bei unseren Vorfahren sehr wahrscheinlich der Sex erfüllt.

Außerdem ist Sex wahrscheinlich auch wichtig geworden, um die monogame Paarbindung zu fördern. Bei allen anderen Menschenaffen (auch bei Bonobos) ist die Aufzucht der Jungen ausschließlich Sache der Weibchen. Beim Menschen ist das anders. Menschenkinder sind so hilfsbedürftig, dass sich auch der Vater an ihrem Großziehen beteiligen muss.

Evolutionär betrachtet ist aber "eigentlich" die optimale Fortpflanzungsstrategie eines Männchens: paare dich mit so vielen Weibchen wie möglich. Sex könnte sich hier zu einem Mittel entwickelt haben, mit dem der Mann an seine Partnerin gebunden wurde. Sozusagen nach dem Prinzip: du bleibst bei mir, dafür belohne ich dich mit Sex und du musst ihn dir nicht bei einer anderen holen. Umgekehrt hatte auch der Mann ein Interesse daran, dass seine Partnerin treu blieb. So verhinderte er, dass sie ihm ein fremdes Kind unterschob, er also wertvolle Energie in ein Kind investierte, das genetisch gesehen gar nicht von ihm ist. So weiß man z. B., dass beim Orgasmus das Hormon Oxytocin ausgeschüttet wird. Es wird oft auch das "Kuschelhormon" genannt, weil es dafür verantwortlich ist, dass wir nach dem Sex unserem Partner bzw. unserer Partnerin nahe sein wollen. Es bewirkt aber auch, dass wir eifersüchtiger werden und entfaltet insgesamt also eine Paarbindungswirkung.

Du siehst also, unsere Sexualität ist gar nicht so primitiv, sondern eher sogar sehr komplex und in der Tierwelt ziemlich einzigartig.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

Sex ist nicht primitiver als essen oder trinken. Einfach Natur, einfach notwendig, einfach 100%ig natürlich und menschlich.

Sexuelle Anziehung und Erregung ist ein wichtiger Baustein von Menschsein. ich sehe das nicht negativ oder gar als Problem.

Mal ganz dumm gefragt: Wie willst du denn in Urinstinkte so etwas wie einen technischen Fortschritt bringen? Der Mensch hat nur eine Überlebenschance, wenn es es so macht, wie er es macht: Frau sieht sexy aus, dem Mann wird die Hose eng. Wenn du den Männern einen Brunftschrei oder einen Balztanz aufzwingen möchtest, dürfte das im Ergebnis bei der Damenwelt nicht weniger primitiv aussehen.

Es wird sich also nichts ändern, was natürlich seltsam anmuten kann. Aber zumindest die Art und Weise des Kennenlernens hat sich geändert. Du kannst dich in Menschen verlieben, die dich gar nicht kennen und dich möglicherweise auch nie kennenlernen werden. Ihr könnt euch über soziale Netzwerke kennenlernen. Die Wahrscheinlichkeit, den richtigen Partner zu finden, ist also besser geworden. Das ist doch auch ein Fortschritt, oder?

Was aber nicht primitiv ist, ist dass man diesen Trieb kontrollieren kann. Das gehört zur menschlichen Würde und es hat dann aber viel mit einer bewussten Entscheidung zu tun.

Ja, prinzipiell hast du recht, aber Menschen sind nichts anderes als Tiere. Menschen vermehren sich nun mal durch Sex und zudem macht es Spaß und löst dabei bestimmt Botenstoff aus, die für ein gutes Gefühl sorgen. Da der Sex zwischen Menschen auch auf hygienischer Basis meistens höher ist als bei Tieren, finde ich es aus meiner Sicht weniger primitiv. Klar könnte die Menschheit mittlerweile auch im Reagenzglas gezüchtet werden, aber dann würde der Spaß und die Bindung zwischen den Menschen fehlen.

LG.