Bisher war die Aussicht auf die grossen Rasen- und Baumfläche zwischen den Wohnhäusern vor meinem Küchenfenster mein idyllischer kleiner Dschungel, ein Ruhepol für meine Augen. Heute aber wurde ich dort Zeuge einer dramatischen Szene: Ich war gerade vom Arzt zurückgekommen und hatte Nudelwasser aufgesetzt, da sah ich, wie sich neben den Büschen etwas bewegte: Ein etwas, aber nur etwas grösserer brauner Vogel sass auf einem kleineren grauen. Erst dachte ich die vergnügten sich, aber der graue Vogel darunter schien sich nicht oder nur minimal zu bewegen. Erst da erkannte ich, wie der braune den grauen rupfte und wie eine Spur von Taubenfedern von der Wiese zu den Büschen führte, zwischen denen der Sperber sein Opfer frass. Jeden Morgen fliegt ein Taubenschwarm vorm Sperber weg – hin und her. Nun hatte es eine arme Taube erwischt. Heute Mittag waren lange weder Tauben noch die anderen kleinen Vögel zu sehen, die hier sonst so rege umherfliegen. Sicher blieben sie aus Angst vorm Sperber fern. Eine Krähe stritt sich zwischendurch mit dem Sperber um seine Beute und flog alsbald davon. Nur eine lebende Taube mit bunt gefiedertem Hals stand die ganze Zeit da, allein, ca. 20 halbwegs sichere Meter entfernt, mit direktem Blick auf die Sperberszene. Erst dachte ich das sei doch gefährlich und zudem müsse das doch ein quälender Anblick sein. Was machte der Täuberich da? Dann dämmerte es mir und ich las im Internet nach: 1. Tauben sind streng monogame Tiere. 2. Vögel trauern vermutlich auch. Der Täuberich hatte gerade die Liebe seines Lebens verloren. Erst stand er wohl unter Schock, denn er bewegte sich kaum. Dann begann er sehr langsam, aufgeplustert und mit gesenktem Haupt, umherzulaufen und gelegentlich in der Wiese zu picken. Drei Stunden später hatte der Sperber nur ein ausgehöltes Knochengerüst mit knallroten Fleischresten darin zwischen den Büschen hinterlassen. Er war längst weggeflogen, aber der Täuberich lief noch immer ganz langsam und allein in unmittelbarer Sichtweite der Reste seiner Partnerin umher. Er flog nicht und er lief nicht weg davor, das zu sehen. Es schien eindeutig: Der arme Täuberich trauerte.

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