Kann man durch sexuellen Missbrauch ein Trauma bekommen?

12 Antworten

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Ja, man kann durch sexuellen Missbrauch ein Trauma bekommen. Es muss aber nicht zwangsläufig so kommen.

Hier einige Zitate aus einem Interview mit Michaela Pfundmair (Prof.in für Sozialpsychologie an der LMU München), erschienen in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG am 19. Januar 2018:

Als beste Schutzfaktoren bei sexuellen Übergriffen hat sich in der Forschung unter anderem herauskristallisiert, zu Kontrollüberzeugungen zu gelangen, Optimismus beizubehalten, wichtige Bindungen aufrechtzuerhalten - aber auch so etwas wie die externale Attribution der Schuld, also sich klar zu machen, dass man selbst nicht für das Geschehene verantwortlich ist. Natürlich sind auch Psychotherapien eine Möglichkeit. Vielleicht aber haben viele der Betroffenen keine "seelische Erschütterung" erfahren. Dann sollte man das auch nicht weiter aufbauschen.
Wenn wir wieder zurück zu den Befunden zum sexuellen Missbrauch gehen, finden Studien natürlich eine stärkere Ausprägung von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) bei Opfern als bei Nicht-Opfern. PTBS ist eines der häufigsten Symptome nach sexuellem Missbrauch. Auch Ängste, Verhaltensstörungen und ein geringes Selbstwertgefühl gehören zu häufigen Symptomen. Aber es gilt wieder: Es ist absolut zu verneinen, dass notgedrungen eine psychische Störung zu Tage tritt.
Eltern sollten ein offenes Ohr haben, wenn ihre Kinder darüber sprechen wollen, sie aber keinesfalls dazu drängen, etwas zu sagen. Vor allem, wenn noch Ermittlungen oder eine Verhandlung im Raum stehen, ist das problematisch, da allein schon eine bestimmte Erwartungshaltung, die man einer Person entgegenbringt, Erinnerungsverfälschungen verursachen kann. Wichtig ist vor allem, Kindern eine sichere Basis zu verschaffen. Zentral wäre, Unterstützung und, vor allem Sicherheit, zu vermitteln. Also die Kinder darin zu stützen, dass sie trotz dieser Erfahrung Kontrolle über Situationen haben können und ein übermäßiges Misstrauen im Alltag nicht notwendig ist.
(...) es gibt Forschung zu den langfristigen Folgen von sexuellem Missbrauch Minderjähriger. Tatsächlich kann Missbrauch in der Kindheit das Risiko für eine Vielzahl psychischer Störungen erhöhen - aber: die Zusammenhänge sind im Allgemeinen schwach bis mäßig ausgeprägt. Das heißt, Missbrauch ist nur ein unspezifischer Risikofaktor. Der Anteil symptomfrei bleibender Betroffener wird auf etwa 40 Prozent geschätzt. Ob es Viktimisierungsfolgen gibt oder nicht, liegt unter anderem an der Missbrauchserfahrung selbst - der Schwere, Dauerhaftigkeit, Täter-Opfer-Beziehung und an verfügbaren Bewältigungsressourcen sozialer und personaler Art.

Aus meiner Sicht ist auch ganz wichtig, dass auch jemand, der einen Missbrauch erlebt hat, und dadurch ein Trauma erlitten hat, nicht lebenslang darunter leiden muss.

Es gibt sogar etwas, dass sich posttraumatisches Wachstum nennt.

Aus dem entsprechenden Wikipedia-Artikel:

Posttraumatisches Wachstum ist eine Bezeichnung in der Psychologie. Zu posttraumatischem Wachstum kann es nach einer traumatisierenden Situation kommen.
Der Begriff „posttraumatisches Wachstum“ (engl. posttraumatic growth) stammt von Richard G. Tedeschi und Lawrence G. Calhoun. Während sich die Klinische Psychologie traditionellerweise mit der Erforschung psychischer Störungen beschäftigt (Posttraumatische Belastungsstörung, Posttraumatische Verbitterungsstörung), steigt seit den 1990er Jahren das Interesse der Traumaforschung an positiven Traumafolgen, auf die bereits 1963 Viktor Frankl hingewiesen hat.
George Bonanno, Professor an der Columbia-Universität, geht davon aus, dass posttraumatisches Wachstum nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Nach seinen Studien sind 60 – 80 % der Menschen, die eine tiefgreifende Krise durchlebt haben, dadurch langfristig zufriedener und stärker geworden. Diese schmerzvollen Rückschläge und Erfahrungen verschaffen nach Ansicht des britischen Psychologen Martin Phillips der betroffenen Person Klarheit, was sie tatsächlich will und v. a., was sie tatsächlich braucht. Dadurch kann sie authentischer und glücklicher leben.
Der Psychologe Richard G. Tedeschi, der als Professor an der UNC Charlotte lehrt, hat zusammen mit seinem Team 5 Bereiche des posttraumatischen Wachstums herausgearbeitet:
Intensivierung der Wertschätzung des Lebens: Der durch das traumatische Erlebnis ausgelöste Reifungsprozess führt zu einer Veränderung der Prioritäten. Die Bedeutung der kleinen, alltäglichen Dinge nimmt zu. Materielle Dinge verlieren an Wert, persönliche Beziehungen gewinnen an Wert.
Intensivierung der persönlichen Beziehungen: Das traumatische Ereignis hat einen Teil der alten Beziehungen zerstört. Die überlebenden Beziehungen („in der Not erkennt man die wahren Freunde“) werden intensiviert. Gleichzeitig nimmt die Fähigkeit zur Empathie zu. Traumabetroffene Personen empfinden ein erhöhtes Mitgefühl mit anderen, vor allem mit notleidenden Menschen.
Bewusstwerdung der eigenen Stärken: Gerade durch das Bewusstwerden der eigenen Verletzlichkeit wächst auch das Gefühl der inneren Stärke. Man weiß nun, dass zwar die Sicherheit im Leben jederzeit angreifbar ist, aber auch, dass man die Folgen schlimmer Ereignisse meistern kann.
Entdeckung von neuen Möglichkeiten im Leben: Nachdem alte Ziele zerbrochen bzw. entwertet wurden, sucht man nun nach neuen Zielen und Aufgaben. Dies kann mit einem Berufswechsel oder mit intensivem sozialen Engagement verbunden sein.
Intensivierung des spirituellen Bewusstseins: Das durch das traumatische Ereignis herbeigeführte Grenzerlebnis wirft existenzielle Fragen auf. Die daraus resultierenden Reflexionen über den Lebenssinn und / oder über Gott können zu einer größeren spirituellen Erkenntnis und zu größerer inneren Zufriedenheit führen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass aus einem Verlust ein Gewinn entsteht. Die Traumabetroffenen erkennen die im Leben angelegten Paradoxien (z. B. Verletzlichkeit und Stärke). Diese führen zu dialektischem Denken und damit zu einem Zugewinn an Reife und Weisheit. Richard G. Tedeschi geht davon aus, dass bis zu 90 Prozent von Trauma-Überlebenden mindestens einen Aspekt des posttraumatischen Wachstums erfahren.

Nur weil es die Möglichkeit von posttraumatischem Wachstum gibt, macht das aus einem Trauma natürlich noch langes nichts Positives. Ich möchte mit meinen Zitaten nichts beschönigen.

Aber: die Zukunft gehört dir. Auch jetzt noch.

Du kannst nach ein glückliches, zufriedenes, selbstbestimmtes Leben führen. Vielleicht musst du erst noch dahinfinden und vielleicht ist es nun etwas schwerer geworden als es ohne die Missbrauchserfahrung geworden wäre. Aber es ist nicht mehr als ein Hindernis. Es macht den Weg weiter, aber es verhindert nicht, dass du deine Ziele erreichen kannst und vielleicht macht dich die Anstrengung es zu überwinden sogar noch stärker.


Das muss furchtbar sein, selbst wenn du es heute nicht mehr spürst. Um die seelischen Spätfolgen eines solchen Ereignisses bewältigen zu können, wurde 2010 eine neuartige Methode entwickelt, die direkt das Unterbewusstsein anspricht. Sie klingt etwas seltsam, hilft auch nicht sofort, dafür aber nachhaltig.

Schau auf dich selbst. Wie fühlt es sich an, du zu sein?

Schon dadurch, dass du diese Sätze liest, schaust du dich selbst mit deinem geistigen Auge an und richtest deine Aufmerksamkeit für einen Augenblick darauf, wie es sich anfühlt, du zu sein – was du ich nennen würdest. Nach einiger Zeit wird sich das unterbewusste Trauma auflösen, und zwar auch dann, wenn du verständlicherweise nicht daran glaubst.

Wenn du dich auf die beiden Sätze nicht verlassen möchtest, kannst du die folgende, ausführliche Übung machen. Am besten bittest du jemanden, dich darin anzuleiten.

Setz dich, schließ die Augen und atme erst einmal nur. Finde heraus, wie es ist, deine Aufmerksamkeit bewusst zu kontrollieren. Richte sie jeweils eine Minute lang:

  • auf das Gefühl, wie deine Zunge in deinem Mund ruht, dann
  • auf das Gefühl, wie deine Füße auf dem Boden ruhen, und schließlich
  • auf das Gefühl des Luftstroms in deiner Nase.

Richte deine Aufmerksamkeit nun nach innen, indem du der kaum merklichen Wahrnehmung nachspürst, wie es sich anfühlt, du zu sein – was du ich nennen würdest. Du bist hier. Du kannst nicht leugnen, dass es dich gibt. Was macht dich gewiss, dass es dich gibt? Was macht es dir unmöglich, zu leugnen, dass du hier bist?

Wiederhole die Übung, wann immer du den Wunsch danach verspürst.


Lonelyaf 
Fragesteller
 13.05.2020, 13:13

danke

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Ja, sexuelle Belästigung könnte genauso wie Missbrauch ein Trauma verursachen, muss aber nicht in jedem Fall. Die Grenze zwischen Missbrauch und Belästigung, kann auch manchmal nicht ganz deutlich sein.

Ja, das kann Traumata auslösen.

Es kommt immer auf die betroffene Person selbst, wie schwerwiegend die Handlung war und wie lange und oft man dem ausgesetzt war.

kommt immer auch auf den Kontext an, die konkrete Person, die Schwere und Häufigkeit der sexuellen Belästigung

ja, kann traumatisieren

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – ich habe Psychologie studiert