Warum belügen wir behinderte Menschen?

19 Antworten

Von Experte ACBRE bestätigt

Lügen finde ich ein zu großes Wort. Inklusion heißt Teilhabe am normalen Leben, aber nicht das Versprechen, das alles möglich ist.

Wenn Du selbst betroffen bist, dann weißt Du, dass es unterschiedliche Formen von Behinderungen gibt und selbstverständlich nie jeder alles schaffen kann. Wenn man im Rollstuhl sitzt kann man keine Regale einräumen.

Aber es gibt Beispiele, da funktioniert das. Und das hat sicher nicht funktioniert, weil die Behinderten ständig gejammert haben: Stephen Hawking als Beispiel oder Wolfgang Schäuble oder Andrea Bocelli. Es kostet sicher sehr viel Arbeit, viel Durchhaltevermögen und Geduld.

Übrigens: Inklusion ist nicht nur für Behinderte. Sie dient auch für die Gesellschaft jene Gruppe nicht zu übersehen.

Ich finde, dass man bei der Frage viel mehr differenzieren sollte.

Einmal zu dem Versprechen, dass man alles werden könnte:

Dieses "Versprechen" habe ich so formuliert selten gesehen. In der Werbung wird es aber teilweise suggeriert und es fügt sich auch gut in bestimmte Narrative (Jeder ist seines Glückes Schmied, Wer hart arbeitet wird reich, wer nicht reich ist, ist selbst Schuld,...) ein und wird so gewissermaßen Teil einer Ideologie, ohne unbedingt ausgesprochen zu werden.

Das Problem ist, dass dieses Versprechen für jeden Menschen eine Illusion ist. Wenn ich beispielsweise ein Einser Abi geschafft habe und an einer angesehenen Universität mit großem Erfolg Physik studiere und schon während meines Studiums Arbeiten von mir in Fachzeitschriften veröffentlicht werden, heißt das nicht unbedingt, dass ich auch ein guter Dachdecker, Erzieher, Psychologe oder Manager werden kann, weil mir vielleicht die Kraft, die Geduld, das Einfühlungsvermögen oder die Reflexionsfähigkeit fehlen. In den meisten Fällen wird das den Physiker wohl nicht stören, aber wenn er aus einer Handwerkerfamilie kommt, in der so ziemlich jeder männliche Verwandte alle handwerklichen Arbeiten im Haus selbst erledigt und davon ausgegangen wird, dass ein Mann körperlich stark, handwerklich geschickt und dazu noch in der Lage sein muss, viel Alkohol zu trinken, kann dieser Physiker trotz seiner außerordentlichen Begabung und seines Erfolgs bei Familientreffen Minderwertigkeitskomplexe bekommen.

Was nun die Situation von Menschen mit Behinderungen betrifft, sollte man auch da viel mehr unterscheiden, weil diese Menschen auch unabhängig von der Behinderung individuell sind und jeweils eigene Stärken und Schwächen mitbringen. Außerdem sind auch die möglichen Behinderungen total verschieden und können einen Beruf unmöglich machen, einen Anderen aber nicht. Es spricht beispielsweise nichts dagegen, dass ein Rollstuhlfahrer Rechtsanwalt oder Psychologe wird, aber Dachdecker wird er wohl kaum werden können.

In vielen Fällen ergibt eine Assistenz wirklich sehr viel Sinn, beispielsweise bei jemandem mit einer körperlichen Behinderung, der in einem Büro arbeitet, aber ohne Hilfe nicht an die Aktenschränke kommt. Andere Behinderungen können beispielsweise dazu führen, dass die betroffenen Menschen keine Mitschriften anfertigen können und dadurch auf Hilfe angewiesen sind.

Ich finde es auch sehr wichtig, dass es diese Unterstützungen gibt und man sich darum bemüht, die Arbeitswelt inklusiver zu gestalten.

Grundsätzlich sehe ich das große Problem aber darin, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der das Ansehen das eine Person genießt, vor allem von ihrem beruflichen Erfolg abhängt und einem ständig vermittelt wird, dass man nur etwas wert ist, wenn man erfolgreich ist, sich gegen Konkurrenten durchsetzt und viel Geld verdient.

Wenn man diese Ideologie verinnerlicht, neigt man schnell dazu, auf Menschen herabzuschauen, die in den eigenen Augen weniger erfolgreich sind.

Wie gesagt: Ich bin dafür, dass wir weiter daran arbeiten, Barrieren für Menschen mit Behinderungen abzubauen und viel mehr in Richtung Inklusion unternehmen. Wir sollten uns darüber hinaus auch ernsthaft fragen, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen und ob uns ständiger Konkurrenzkampf und Konsumdenken wirklich glücklich machen.


Tun wir das denn?

Ich las letztens von einer Frau, die aus der Werkstatt heraus einen Job bekommen hatte. Diesen Job konnte sie aber nur mit Hilfe einer persönlichen Assistenz ausüben, und es war ein Job, den der Assistent oder die Assistentin auch selbst hätte ausführen können. Da frage ich mich dann schon, wie sinnvoll das ist.

Ich bin absolut dafür, Menschen mit Einschränkungen Jobs zu ermöglichen, auch wenn dafür vielleicht etwas Fantasie und kreative Lösungen erforderlich sind. Aber letztlich sollte der Mensch den Job schon alleine ausüben.

Ansonsten bieten eben die Werkstätten einen geschützten Raum, der auch von Menschen genutzt wird, die produktiv eher weniger leisten können. Und ein weiterer Aspekt ist nicht unwichtig: die sozialen Kontakte. Es ist eine Illusion zu denken, das schwer geistig behinderte Menschen in der freien Wirtschaft sozial integriert werden. Das funktioniert schon in der Schule nicht.

Ich weiß nicht ob man das so pauschalisieren kann. Ich kenne Leute die haben es obwohl es nicht leicht war aus einer Werkstatt heraus geschafft und gute Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommen. Ich kenne einen Lernbehinderten Mann der auch Einschränkungen in der auditiven Wahrnehmung hat, der in einer Bibliothek arbeitet, man hat ihn überall Hilfen in Form von Symbolkarten und anderen Sachen zu Verfügung gestellt mit er seinen Job machen kann

Das läuft mit psychisch kranken nicht anders mir erzählen die seit über 30 Jahren das sie mir helfen können. Ich würde kein Schritt weiter sein, wenn ich nicht mein eigenes Ding gemacht hätte. Die drehen sich auch mit dem Wind, so allgemein die Gesellschaft. Es wird sich alles so zurecht gelegt wie es gerade passt immer so dieser Meinungswechsel. Weiß auch nicht, sagen ständig was anderes.


Kitharea  12.05.2024, 07:41

Hilfe zur Selbsthilfe ist doch genau das. Du merkst es geht so nicht weiter und nimmst es selbst in die Hand. Auch das ist ein erfolgreicher Schritt in der Therapie.

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