Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Eine wahre. Jedes Wort stimmt, ich schwöre.

Am 1. Dezember 1975 musste ich antreten, um meinen Zivildienst in einem Krankenhaus, einer Frauenklinik, abzuleisten. Ich war die rechte Hand des Hausmeisters, was bedeutete, dass ich vom Müllverbrennen über verstopfte Toiletten reinigen bis hin zum Auswechseln von Glühbirnen und gelegentliches Verstorbene einsargen überall Hand an legen durfte.

In dem Haus war es damals üblich, dass einige Fichten aus dem Garten ausgegraben und in große Pötte eingetopft wurden. Bunt geschmückt dienten sie bis zum Jahresanfang als Weihnachtsbäume in den Fluren und einigen ausgewählten Zimmern. Im Januar wurden die dann wieder im Garten eingepflanzt, Die meisten ertrugen diese Behandlung problemlos.

Am Heiligabend wurde bis Mittag gearbeitet. Ich saß pünktlich zu Arbeitsbeginn um halb 8 morgens auf meinem Stuhl in der Hausmeisterwerkstatt, einem etwas runter gekommenen Nebengebäude. Hausmeister Helmut war noch nicht da, was aber nicht so ungewöhnlich war, denn es achtete sowieso kaum jemand im Haus darauf, was wir machten bzw. ob wir überhaupt irgendetwas taten. Es war der schönste Job, den ich je hatte. Meist hatte man echt seine Ruhe.

Ich las irgendetwas, als unversehens die Schwester Oberin vor mir stand. Die hatte ich hier noch nie gesehen. Eine recht ernste Frau. Irgendwie fühlte ich mich beim Nichtstun ertappt und erwartete einen Anpfiff. Die Schwester hatte ein Päckchen in der Hand, das in weißes Laken geschlagen war, und in etwa die Größe eines Brotes hatte.

„Hier“, sagte sie und drückte mir das Paket in die Hand. „Sie wissen ja Bescheid, nicht wahr, Werner?“ Ich nickte und sagte: „Ja, klar.“ Keiner Ahnung, warum ich das sagte, ich wusste nämlich absolut nicht Bescheid, wollte mir aber keine Blöße geben. Die Schwester sah mir wohl meine Ratlosigkeit an, deutete auf das Paket und sagte: „Vergraben, bitte. Im Garten. Sofort.“

Ich wunderte mich etwas, dass ein frisches Brot vergraben werden sollte. Wozu gibt’s denn Mülleimer?, dachte ich. Aber egal, in meiner Funktion war man nicht zum Nachdenken da.

Ich nahm also das kleine Paket, ohne lange zu fackeln, schnappte mir die Schaufel und ging raus in den großen dunklen Garten. Er wurde nur vom hellerleuchteten Krankenhauses beschienen. Außerdem war Vollmond, der ja auch Licht spenden kann.

Ich lief etwas ratlos herum und stand dann plötzlich vor einem der Löcher, in denen eine Fichte gesteckt hatte, die nun im Krankenhaus Weihnachten etwas festlicher machte. Das Loch war tief genug. Reichte es aber auch von der Länge?

Ich hielt mein Päckchen herunter, um zu sehen, ob es der Länge nach ins Loch passte. Das Päckchen war warm. Ich spürte die angenehme Wärme noch durch das weiße Laken.

Das ist doch kein Brot, dachte ich, und wusste plötzlich ganz genau, was es sein musste.

Ein kleiner Mensch.

Ein kleiner Mensch allerdings, der nicht mal sein erstes Weihnachten erleben durfte.

Im vergehenden Mondlicht legte ich es behutsam ins dunkle Loch, fühlte mich unbehaglich, aber auch irgendwie wichtig, als sei ich auf einmal ein Star in einem sehr seltsamen Film, schippte den harten Sand auf das weiße Päckchen, trat ihn fest und sagte oder dachte „Tschüß, kleine Seele“ und summte dabei „Stille Nacht Heilige Nacht“.

Vielleicht auch „Ihr Kinderlein kommet“, das weiß ich nicht mehr so genau. Ich weiß nur, dass ich dachte: DAS glaubt dir sowieso keiner.

Als ich zur Werkstatt kam, war der Hausmeister Helmut schon da. „Wo warst du denn?“ fragte er. „Ich musste noch was vergraben“ sagte ich, und Helmut hielt mir schon ein halben Liter Bier hin und sagte: „Frohe Weihnachten schon mal“ „Ja, frohe Weihnachten“, sagte ich. Helmut war einer der besten Menschen, die ich je traf.

Anfang des Jahres war einer der Weihnachtsbäume schon sichtlich vertrocknet. „Den brauchen wir jedenfalls nicht wieder eingraben“, sagte Helmut.

Das traf sich gut.

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