Der Seelenbegriff stammt aus einer Zeit, in der man sich zwar bewusst war, dass ein Mensch weit mehr ist als ein biologischer Organismus aus Fleisch und Blut, aber keine Probleme damit hatte noch andere "Seinsebenen" für real zu halten, auf denen dann die Wesenheit, das Eigentümliche und auch Einzigartige der jeweiligen Person seinen Platz bekam. Rein mechanistisch war es kein Problem einfach noch eine Parallelwelt anzunehmen, auf der dann der gedachte unsterbliche Teil des Menschen seinen Ort hatte, der als die Seele des Betreffenden bezeichnet wurde. In dieser Wesenheit wurde auch das moralische Bewusstsein eingeordnet, d.h. die Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott, letztlich praktisch auch alle sog. Charaktereigenschaften, die das zur Gemeinschaft fähige Wesen "Mensch" ausmachen. Die Gesamtheit der Fähigkeiten zum schlussfolgernden, rationalen Denken wurde irgendwie auch noch in eine Art Anteil des Menschen, der über das reine Fleischsein hinausgeht, etabliert. So konnte man sich mit der Einheit von Körper, Geist und Seele über lange Jahrhunderte zufrieden geben.
Erst mit dem Aufkommen der biologischen, der psychologischen und der medizinischen Wissenschaften kamen die Zweifel auf, dass es so eine Dreiheit von Personanteilen geben könnte. Anlass dazu war die Akzeptanz der Evolutionstheorie von Charles Darwin. Wenn sich alle Organismen aus total primitiven einzelligen Urformen über die Entwicklungsgeschichte der Tiere bis zum Menschen herausentwickelt haben sollten, an welcher Stelle könnte sich dann etwas Zusätzliches wie der Geist oder die Seele gebildet haben? Einem Wurm wurde in jedem Fall eine Seele abgesprochen, bei einer Maus wurde man schon nachdenklicher, und bei einem Affen konnte man sich durchaus vorstellen, dass er vielleicht mehr ist als nur Körper. Doch dann kamen die Neuropsychologen und erklärten in ihren Modellen, wie sich aus einfachen Nervenstrukturen immer höhere psychischen Funktionen ableiten lassen, die das Verhalten des Menschen steuern. Wenige Moleküle einer psychogen wirksamen Substanz können aus einem intakten Menschen ein Verhaltens-Monstrum machen. Kleine Eingriffe in Gehirnstrukturen verändern die Gesamtpersönlichkeit. Weg ist jede Verantwortlichkeit, der Glaube an die Auferstehung - wie weggefegt - Moral - komplett verloren. Wie kann so etwas sein, wenn doch eigenständige Systeme die Seele oder den Geist festlegen?
Bilanz: Die unglaublichen Erkenntnisse, dass hochkomplexe Nervenstrukturen mit ihren biochemischen Epiphänomenen zu jedem beobachtbaren Verhalten als Erklärung reichen, dass Gedächtnis und letztlich auch erlerntes Moralverhalten ebenfalls aus Gehirnstrukturen hervorgehen können, führte zu der Einsicht, dass es letztlich nur physikochemische Systeme gibt, die zu all den Verhaltens- und Bewusstseinsstrukturen führen können, die wir heute beim Menschen vorfinden. Damit ist alles Menschsein materiell, selbst wenn milliardenfache elektrische Potentiale in den Gehirnen wohlkoordiniert interagieren und für uns die Illusion schaffen, dass es doch außer dem Leib noch einen Geist und eine Seele geben sollte.