Wie viele Züge im Voraus denken professionelle Schachspieler?

3 Antworten

Ebenso wie praktisch jeder Autofahrer ein „Gefühl“ für seine aktuelle Geschwindigkeit und seine aktuelle Verkehrssituation entwickelt, entwickeln Schachspieler mit der Zeit ein „Gefühl “ für die Stellungen und die Möglichkeiten, die in der konkreten Stellung ihrer aktuellen Turnierpartie stecken.

Es gibt für diese Berechnungen keine Zahlen, da bei manchen Kombinationen der Gegner ggf. sogar den entscheidenden Angriffs- oder Verteidigungszug weiter berechnet hat.

Moin,

obwohl diese Frage (vor allem Laien) oft interessiert und sie deshalb von Zeit zu Zeit gestellt wird, kann man das nicht pauschal beantworten.

Der ehemalige Weltmeister von 1935-37 Machgielis (Max) Euwe (*1901 - †1981) ging einmal dieser Frage nach und befragte Großmeister(kollegen). Dabei sollen folgende Antworten gegeben worden sein:

Alexander Aljechin (*1892 - †1946; Weltmeister von 1927-35 und 1937-46): "Meistens vier Züge, selten mehr als sechs, doch manchmal auch Kombinationen, die aus mehr als zehn Zügen bestehen."

José Raúl Capablanca (*1888 - †1942; Weltmeister von 1921-27): "Das hängt von der Stellung ab. Manchmal 25 bis 30 Züge."

Frank James Marshall (*1877 - †1944): "Zwei, aber dann zwei gute!"

Samuel Reshevsky (*1911 - †1992): "Einen Zug weiter als mein Gegner!"

Robert James Fischer: (*1943 - †2008; Weltmeister von 1972-75): "Ich rechne überhaupt nicht voraus; ich gewinne auch so!"

In jüngerer Zeit wurden von führenden Welt- und Großmeistern diese Antworten gegeben:

Garri Kasparow (*1963; Weltmeister von 1985-2000): "Wenn es eine einfache Variante ohne viele Verzweigungen ist, können das schon einmal 15 Züge sein. Aber normalerweise operiere ich mit vier bis fünf Zügen."

Wladimir Kramnik (*1975; Weltmeister von 2000-2007): "Wenn ich eine bestimmte Spielsituation sehe, dann schließe ich 99,9 Prozent aller möglichen Züge aus – weil sie in dieser Stellung unangebracht wären. Ich kann mich also auf die zwei, drei oder vier logischen Züge und deren Folgen konzentrieren. Menschen [können] manchmal sogar weiter rechnen [als Computer], weil wir stark selektiv vorgehen. Das ist ein kleiner Vorteil für uns Menschen. Man kann ihn nicht in allen Positionen nutzen, aber manchmal eben schon. Und dann können wir 20 Züge im Voraus denken. Das kommt aber wirklich sehr, sehr selten vor."

Arkadi Naiditsch (*1985): "Im Schach gibt es Möglichkeiten ohne Ende, ich habe Tausende Partien gespielt, und keine war wie die andere. Es gibt Situationen, in denen man die kommenden zwei oder drei Züge berechnet, es gibt aber auch Stellungen, in denen man versucht, zwanzig oder gar dreißig Züge in die Zukunft zu schauen. Wir haben große Datenbänke, die uns helfen. Daraus baue ich mir dann einen Matchplan zusammen für die Eröffnungsphase, später spielt dann aber nicht nur die Berechnung, sondern auch das Gefühl eine Rolle."

Levon Aronjan (*1982): "Oft verrechnet man sich: Es scheint dass du alles bis zum Ende berechnet hast, aber in Wirklichkeit machst du beim zweiten Zug einen Fehler. Es gibt bei uns den Begriff »Variantenbaum«. Wenn der keine Zweige hat, sondern nur einen Stamm, dann ist das sehr einfach. Normalerweise gibt es aber ganze Dschungel. Kein einziger seriöser Schachspieler würde exakt sagen können, wie viele Züge des Spiels er berechnet."

Magnus Carlsen (*1990; Weltmeister seit 2013): "Wenn es notwendig ist, kann ich 15 bis 20 Züge durchdenken, aber das ist normalerweise nicht nötig, weil es so viele Varianten bei der Entwicklung der Ereignisse gibt. Da macht es keinen Sinn ein Szenario so weit zu durchdenken - es gibt zu viele Möglichkeiten."

Diese Stellungnahmen sind teilweise wohl eher nicht ganz ernst gemeint, zeigen aber andererseits auch auf, dass die Frage, wie viele Züge ein Großmeister voraussehen kann, vielleicht falsch gestellt ist. Es geht wohl eher darum, wie ein starker Spieler im Vergleich mit einem schwächeren vorgeht. Großmeister gehen nämlich "anders" an Stellungen (und Partien) herangehen als "Otto-Normalverbraucher".

Eine spannende Herausforderung im Schach ist, sich das Zusammenspiel von Intuition und Berechnung anzueignen. Starke Meister erkennen mehr Muster als wir "Patzer". Je mehr Muster man kennt, je mehr Möglichkeiten der logischen Spielfortsetzungen man im Training kennengelernt hat, desto weniger braucht man konkret zu berechnen. Große Spieler machen oft Züge, ohne sie bewusst durchzurechnen. Meister haben eine "mentale Datenbank" mit zehntausenden Stellungsmustern, ein riesiges Repertoire an Angriffs- oder Verteidigungsressourcen, das sie über die Jahre aufgebaut haben. Solche Muster stammen nicht nur aus eigenen Partien, sondern auch aus vielen, vielen Partien anderer Meister, die sie studiert haben. Sie erkennen anhand von Stellungen, welche Großmeisterpartie das ist, und wann und wo sie gespielt wurde und wer auf welche Weise gewonnen hat.

Ein weiterer Unterschied zu uns "Normalsterblichen" ist, dass Meister anders an ihr Vorhaben in Partien herangehen. Während viele Amateure vor allem nach Zügen suchen und über diese nachdenken, die ihnen Erfolg versprechen, wobei in der Regel Argumente gesucht werden, die für den Kandidatenzug sprechen, so dass man mitunter leicht ins Wunschdenken abgleitet und an Objektivität verliert, trachten Meister eher danach, Züge auszusortieren, die nicht viel taugen. Sie erkennen die Spannungen, die auf dem Brett herrschen. Sie kennen und erkennen die Schwachpunkte, wo Angriffe drohen und wie die erfolgversprechenden Maßnahmen aussehen. Sie wissen, welcher Bauernzug welche Schwäche produziert, welche Figuren wie gut (oder schlecht) zusammenspielen, welche Felder stark oder schwach sind und welche Linien oder Schrägen gefährlich werden können oder sind.

Die Wissenschaftlerinnen Michelle Cowley & Ruth Byrne haben 2004 eine Studie veröffentlicht, in der sie sich mit dem Denken über Züge in einer Schachpartie von Laien und Profis beschäftigten. Ich fand das hier (Zitat):

»Sie fanden grundlegende Unterschiede in der Argumentationskette der Novizen und der Profis. Während die Anfänger versuchten, gute Gründe, die für den favorisierten Spielzug sprechen, zu finden, suchten die Profis nach Argumenten, die gegen einen Zug sprechen. Die unerfahrenen Spieler richteten ihr Augenmerk auf die Aktionen des Gegners, die ihre Strategie stützen würden und ignorierten diejenigen, die ihre Siegeshypothese scheitern ließen. Im Gegensatz hierzu beschäftigten sich die Schachexperten viel mehr damit, unter welchen Umständen ihr favorisierter Zug ihre Position im Spiel schwächen würde. "Großmeister denken viel stärker daran, was ihr Gegner wohl machen könnte", sagt Byrne, "sie falsifizieren ihre Hypothese."

Fazit:
Es ist Menschen möglich, unverzweigte Variantenbäume mit relativ großer Präzision relativ weit berechnen zu können. Das kommt aber nur selten vor. In Stellungen, in denen viele, scheinbar gleichwertige Möglichkeiten mit verschlungenen, variantenreichen Pfaden vorhanden sind, verrechnen sich auch Großmeister mitunter leicht. Ein wirklich starker Spieler hat einen großen Fundus an Mustern im Kopf und weiß dadurch intuitiv, was in einer Stellung möglich ist und was nicht. Er braucht dann wenig zu rechnen, sondern ruft die Muster aus dem Gedächtnis ab.
Das Fehlen von konkreten Berechnungen in konkreten Stellungen führt dann manchmal auch bei Welt- oder Großmeistern zu unglaublichen Zügen. Erinnert sei hier zum Beispiel an die Partie Carlsen - Anand, Sotschi 2014, 6. Wettkampfpartie, in der der Norweger in einer klar besseren Stellung einen fatalen Königszug machte, den Anand nicht bestrafte. Interessant daran ist Anands Kommentar nach der Partie: "Wenn du kein Geschenk erwartest, siehst du es manchmal auch nicht!" Tja, das hängt dann wohl auch damit zusammen, dass man nicht mehr konkret rechnet, sondern nach Intuition und einem allgemeinen Plan spielt...

Entschuldige die Länge dieser Antwort; es hat mich einfach fortgerissen...

LG von der Waterkant

Dafür gibt es keine pauschale Antwort.

Das ist immer abhängig von der jeweiligen Stellung und den daraus resultierenden Zugmöglichkeiten.