Welche Hindernisse stehen der Selbsterkenntnis nach Friedrich Nietzsche entgegen? Bitte um Hilfe...
Heeeei. Ich bin ein großer Fan von Philosophie und habe mich mal mit dem Text "Jeder ist sich selbst der Fernste" von Friedrich Nietzsche beschäftigt... Aber - und das kommt sehr selten vor - ich seh da irgendwie nicht durch und verstehe nur Bahnhof... Könnt ihr mir vllt ein bisschen auf die Sprünge helfen? Hier ist der Text:
Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht,—wie sollte es geschehn, dass wir eines Tags uns fänden? Mit Recht hat man gesagt: “wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz”; unser Schatz ist, wo die Bienenkörbe unsrer Erkenntniss stehn. Wir sind immer dazu unterwegs, als geborne Flügelthiere und Honigsammler des Geistes, wir kümmern uns von Herzen eigentlich nur um Eins—Etwas “heimzubringen.” Was das Leben sonst, die sogenannten “Erlebnisse” angeht,—wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht “bei der Sache”: wir haben eben unser Herz nicht dort—und nicht einmal unser Ohr! Vielmehr wie ein Göttlich-Zerstreuter und In-sich-Versenkter, dem die Glocke eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags in's Ohr gedröhnt hat, mit einem Male aufwacht und sich fragt “was hat es da eigentlich geschlagen?” so reiben auch wir uns mitunter hinterdrein die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten, “was haben wir da eigentlich erlebt?” mehr noch: “wer sind wir eigentlich?” und zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle die zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens, unsres Seins—ach! und verzählen uns dabei ... Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir müssen uns verwechseln, für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit “Jeder ist sich selbst der Fernste”—für uns sind wir keine “Erkennenden”
Glg LilaPinkBlau
3 Antworten
Vielleicht nur ein Hinweis, der auch im zitierten Text erkennbar ist, dass es Nietzsche immer um Perspektivität geht, von der wir uns nicht befreien können. "wir kümmern uns von Herzen eigentlich nur um Eins—Etwas “heimzubringen." zeigt, dass wir in unserer Perspektive immer darauf ausgelegt sind, von innen nach außen zu gehen und dort zu sammeln. Dort aber finden wir alles mögliche, nur nicht uns selbst. Denn wenn wir "nach Hause kommen mit vollem Sammelkorb" haben wir uns durch Betrachten des Sammelkorbs längs bereits wieder verändert.
Nochmal deutlich wird das im Uhrschlag: "so reiben auch wir uns mitunter hinterdrein die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten, “was haben wir da eigentlich erlebt?” mehr noch: “wer sind wir eigentlich?” und zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle die zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens, unsres Seins—ach! und verzählen uns dabei ." Die Frage nach uns selbst entsteht aus der Selbstirritation und noch wichtiger, ist immer ein IM NACHHINEIN. Das kleine Wörtchen "hinterdrein" beschreibt eine zeitliche Perspektive, der wir in der Analyse von Erfahrungen unterworfen sind. Während wir Erfahrungen "hinterdrein" analysieren, sind wir selbst bereits im JETZT, also der Erfahrungsanalyse voraus. So also erreichen wir uns selbst nie!
Zunächst sei mal angemerkt, dass dieser Text dazu da ist, seine "Theorie" vorzustellen. Diese ist darauf ausgerichtet, dass der Mensch durch gegebene Moralgrenzen und gesellschaftliche Gewohnheiten davon abgehalten wird, sich selbst zu erkennen und als reinen Menschen leben zu lassen.
Nietzsche ist der Auffassung, dass im Menschen eine noch viel wertvollere, kräftigere "Natur" steckt, die Natur des Übermenschen, ein Mensch, der sich von allen Zwängen, Normen und Ordnungen befreit, zu sich selbst gefunden hat. Diese Natur überdecken wir aber, wir lassen sie nicht ausbrechen und können nicht einmal genau erahnen, was in ihr begraben liegt, obwohl wir reflexsivfähige Wesen sind.
Zu "Jeder ist sich selbst der Nächste" hätte Nietzsche wohl geantwortet: "Genau so sollte es sein, aber wir trauen es uns nicht." - Aber das sind wir nicht, es ist falsch, weil wir gar nicht wissen, gar nicht darauf achtgeben, wer wir überhaupt sind, was wir wollen, uns völlig falsch und fremdgeleitet einschätzen.
Auch gut erkennbar in seiner Religionsfeindlichkeit ("Göttlich-Zerstreuter"). In der Religion sah Nietzsche nur einen irreleitenden Ersatz für etwas, das der Mensch in sich selbst suchen müsste. Aber er sucht es in der Religion und wird deswegen nie zu seiner Natur finden. An dieser Stelle fällt Nietzsche die Axt: Es ist Schwachsinn in dieser Ganzen Sein-Frage Vermutungen anzustellen, Wissen zu sammeln und sich an dabei Prinzipien zu halten. Suchen müssten wir aber in uns selbst, nirgendwo anders.
Das "in all Ewigkeit" zum Ende kommt mir ein wenig fremd vor, denn Nietzsche hatte sehr wohl die Vision von diesem Übermenschen, der als neuer Typus Mensch dem "bisherigen" Menschen überlegen ist. Ich würde es gerne als rhetorisches Merkmal unter den Tisch kehren.
Ich hoffe, ich konnte Dir den Text ein wenig näher bringen.
Grüße, Balu
Wie Schiller Karl Moor sagen ließ: Ist der Mensch so blind gegen sich selbst? Ja. Er ist. Der Mensch spiegelt sich selbst vorzugsweise in anderen. Alles andere verdreht ihm das Hirn.