Hat Lenin Marx' Idee vom Kommunismus verraten?

9 Antworten

Diese konkrete Idee vom Kommunismus beschreibt Marx in einer seiner Frühschriften: "Jeder hätte sich und den anderen in seiner Produktion bestätigt ..." Diese Frühschriften kannte Lenin gar nicht, denn sie kamen erst in den 20er Jahren des 20.Jh. nach Russland. Als Stalin die Übersetzung las, war ihm sofort klar, dass das unrealisierbar sein würde ... und schon begann der große Terror.

Lenin hatte durch seine autoritäre Politik die Linie vorgegeben, die Stalin nun weiter verfolgte. Lenin hatte Hunderttausende Hungertote auf dem Gewissen, weil er ausländische Hilfsangebote abgelehnt hatte. Das begründete er damit, dass die Bauern nun sehen würden, wie ihr Gott ihnen nun helfen würde.

Der Stalinismus ist erst zu Zeiten Stalins entstanden. Folglich kann Lenin vorher nicht auf ihn aufgebaut haben.

Lenin hat ein umfangreiches theoretisches Werk hinterlassen und war eine führende Persönlichkeit in einer de bewegtesten und chaotischsten Phasen des 20. Jahrhunderts. Es ist selbstverständlich, dass unter Marxisten und Kommunisten einige seiner vielen Beiträge umstritten sind und er einige Fehler gemacht hat, aber es steht fest, dass er aus tiefer Überzeugung sein ganzes Leben der Verwirklichung des Kommunismus gewidmet hat.

Der Verrat am Marxismus erfolgte durch Stalin und seine Clique. Stalin stellte sich selbst als Schüler und legitimen Nachfolger von Lenin dar, verkehrte aber viele seiner Vorstellungen ins exakte Gegenteil, z.B. mit der Doktrin des Sozialismus in einem Land und der Abschaffung der Rätedemokratie. Antikommunisten folgen dabei Stalins Darstellung und setzen Lenin und Marxismus, Kommunismus und Bolschewismus insgesamt mit ihrem stalinistischen Zerrbild gleich, um die ganze Idee einer gerechten Gesellschaft in den Schmutz zu ziehen.

Richtig ist, dass in der jungen Sowjetunion eine direkte Rätedemokratie bestand, an der auch die übrigen sozialistischen Parteien neben den Bolschewiki (also Menschewiki sowie rechte und linke Sozialrevolutionäre) beteiligt waren. Auch Abweichler innerhalb der bolschewistischen Partei (wie Sinowjew und Kamenew, die sich gegen die Oktoberrevolution ausgesprochen hatten) wurden geduldet.

Richtig ist auch, dass unter Lenin schließlich die übrigen Parteien verboten wurden und die Entscheidungsgewalt von den Räten nach und nach zur Parteibürokratie überging, doch das muss man im historischen Kontext sehen.

Lenin war immer klar, dass der Sozialismus in der Sowjetunion nicht überlebensfähig war, wenn er isoliert blieb, und er setzte deshalb auf weitere Revolutionen in den stärker industrialisierten Ländern. Diese kamen auch, aber in Deutschland wurde die Revolution von den Sozialdemokraten verraten und in Ungarn und später Finnland wurde sie militärisch unterdrückt.

Deutschland und die anderen europäischen Mächte wurden also nicht zu freundlich gesinnten Räterepubliken umgeformt, sondern blieben kapitalistisch und unterstützten mit Militärinterventionen die weiße Konterrevolution in Russland. Unter diesen katastrophalen Umständen standen die Errungenschaften der Revolution auf Messers Schneide und die Bolschewiki mussten harte politische und wirtschaftliche Entscheidungen treffen und von vielen ihrer Positionen abrücken und Kompromisse finden, um sich halten zu können.

Menschewiki und rechte Sozialrevolutionäre waren Gegner der Oktoberrevolution, weil sie auf der Notwendigkeit einer kapitalistischen Phase vor dem Sozialismus beharrten, und schlossen sich teilweise der Konterrevolution an, weshalb sie natürlich bekämpft werden mussten.

Die linken Sozialrevolutionäre waren zunächst Verbündete der Bolschewiki und formten mit ihnen eine Regierungskoalition, forderten aber die Fortführung des Kriegs gegen Deutschland und zettelten als Reaktion auf den Friedensvertrag einen Aufstand gegen die Bolschewiki an und verübten Attentate auf ihre Funktionäre (auch Lenin wurde von einer Sozialrevolutionärin angeschossen). Die linken SR wurden damit ebenfalls zur Gefahr für die Revolution und wurden verboten, genau wie anarchistische Organisationen, die sich teilweise den Bolschewiki anschlossen und sie teilweise offen bekriegten.

Es ist unstrittig, dass solche Maßnahmen nicht aus Überzeugung, sondern aus realer oder empfundener Notwendigkeit getroffen wurden und sich Lenin des Risikos bewusst war, eine bürokratische Führungsschicht zu schaffen, die iihre Privilegien nicht mehr abgeben würde. Kurz vor seinem Tod forderte er von der Partei die Absetzung von Stalin und anderen Führungskräften, was von diesem der Öffentlichkeit vorenthalten wurde.

Stalin konzentrierte nicht nur die gesamte Macht in seiner Person, sondern entmachtete auch die Räte endgültig und nahm zahlreiche revolutionäre Errungenschaften, wie Rechte für Frauen und nationale Minderheiten, wieder zurück.

Schon Marx und Engels haben die Ansicht verworfen, dass die Geschichte von einzelnen "starken Männern" gemacht wird. Eine starke Persönlichkeit wie Lenin konnte einzelne Ereignisse wie die Oktoberrevolution entscheidend prägen, aber nicht gegen den Strom der geschichtlichen Entwicklung ankämpfen. Angesichts der Zerstörungen aus zwei Kriegen, der technologischen Unterentwicklung Russlands und der Bedrohung von außen konnte er sich nur um Schadensbegrenzung bemühen. Wäre die Revolution in Deutschland und anderswo erfolgreich gewesen, hätte sich auch die Sowjetunion ganz anders entwickelt.

"Marx' Idee vom Kommunismus" hätte sich im Russland des Jahres 1917 gar nicht umsetzen lassen, weil das Land überhaupt nicht die Voraussetzungen dafür erfüllte. Marx bezog sich mit seinen Ideen auf aus seiner Sicht sehr fortschrittliche Staaten seiner Zeit, wie etwa Belgien, Frankreich, die USA oder das Vereinigte Königreich.

In einem Vorwort zum "Kommunistischen Manifest" hat Karl Marx sich selbst zum Thema "Kommunismus in Russland" geäußert und gewarnt, eine Revolution dort könne nur gelingen, wenn Russland sie in andere, weiter entwickelte Industrienationen exportiere und anschließend von diesen unterstützt werde.

Genau auf diesen Gedanken baute Lenin auf. Er wusste, dass Russland für den Kommunismus völlig ungeeignet war. Die kommunistische Idee verriet er spätestens in dem Moment, in dem er das Ergebnis der ersten (und bis zu diesem Zeitpunkt einzigen) demokratischen Wahl der russischen SSR nicht anerkannte und kurzerhand alle Parteien bis auf seine Bolschewiki auflösen ließ. Vom wahlberechtigten Volk war seine extreme Agenda nämlich abgelehnt worden, und das konnte Lenin nicht akzeptieren.

Karl Marx stellte sich den Kommunismus als Massenbewegung vor, getragen von einer großen Mehrheit des arbeitenden Volkes. Von einer "Eliten-Partei", die den Menschen vorschreiben sollte, was das Beste für sie sei, war bei ihm keine Rede.

Der Verbrecher Stalin, der die Sowjetunion endgültig in ein totalitäres Regime umwandelte, war dann der letzte Sargnagel für das kommunistische Experiment auf russischem Boden.

Ich würde sagen, dass der Stalinismus auch ohne Stalin, und selbst wenn Lenin überlebt hätte, stattgefunden hätte.

Der Stalinismus ist ein Produkt der Umstände in Russland. Ein zu großer Teil der Bevölkerung bestand aus Bauern und somit Landbesitzern, in dessen Interesse es nicht stand, Grund und Produktionsmittel zu enteignen.

Aus demselben Grund passierte etwas ähnliches 30 Jahre später in China

0

Umgekehrt. Stalin hat Marx' Lehre pervertiert. Lenin selbst war vergleichsweise "zivil" - während seiner Zeit kämpfte die junge Sowjetunion nämlich noch ums Überleben; da war für solche Exzesse, wie sie unter Stalin aufkamen, einfach keine Zeit (und ich denke, unter Lenin hätte es sie auch nicht gegeben; schließlich hat er selbst vor Stalin gewarnt. Aber das werden wir - leider oder glücklicherweise - nie wissen).