Nietzsche und Schopenhauer/Mitleidsethik?

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Die Information über eine Schopenhauer-Begeisterung Nietzsches ist für einen Zeitabschnitt in jüngeren Jahren richtig. Der Mitleidsethik Schopenhauers hat Nietzsche niemals richtig zugestimmt. Er hat nur Teilgesichtspunkte von dessen Weltanschauung in sein eigenes Denken der Zeit seines Frühwerks eingebaut bzw. eine eigene Deutung vorgenommen, die wesentlich andere Auffassungen umging. Das Abweichende bei der Mitleidsethik blieb zunächst ausgeklammert.

In Nietzsches philosophischen Standpunkten gibt es Wandlungen. Eine Abkehr von Schopenhauers Philosophie wird deutlich in: Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches : ein Buch für freie Geister. Erster Band (1878). Darin deutet er die Schrift über Schopenhauer als Umweg zum Ideal eines freien Geistes.

In „Also sprach Zarathustra“ wird an der Nächstenliebe beispielsweise kritisiert, hinter dem angeblichen Mitleid beim helfenden Handeln seien oft andere Motive handlungswirksam. „Der Antichrist“ und „Jenseits von Gut und Böse“ enthalten scharfe Äußerungen gegen eine Mitleidsmoral (sowohl die christlichere Moral als auch Schopenhauer Mitleidsethik sind eingeschlossen). Mitleid wird als schädliche Schwäche und Zeichen niedergehenden Lebens (Dekadenz) beurteilt.

Im Rückblick hat er Beeinflussung und Loslösung von Schopenhauers Denken als Beitrag zu Selbstfindungsprozessen verstanden.

Mitleid und Mitfühlen hat es bei Nietzsche gegeben. Kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch umarmte er in Turin einen geprügelten Droschkengaul (Januar 1889).

Eine Mitleidsmoral hat er in seinen späteren Schriften aber verworfen.

Der Bezug auf das Geschehen von Leiden ist bei Schopenhauer und Nietzsche da. Nach Schopenhauer ist die Welt in ihrer Tiefenschicht ein blinder Wille, der ohne Ziel, Sinn und Grund (ohne Beweggrund) wirkt und jeder Vorstellung zugrundeliegt. Die Individuen seien alle Erscheinungen dieses Willens. Dies werde beim Mitleid durchschaut. Die unmittelbare Teilnahme erkennt und empfinde intuitiv im Leidenden sich selbst, sein eigenes Wesen. Die Identifikation mit dem anderen, dessen Wohl und Wehe könne die Macht des Egoismus brechen. Schopenhauer tritt für die Verneinung des Willens zum Leben als Weg zur Erlösung ein. Nietzsche hat auch eine tragische Sicht auf das Leben vertreten, diese Verneinung aber nicht übernommen. Seine im Zarathustra und folgenden Schriften vorgetragene Lehre vom Willen zur Macht ist der Willensverneinung bei Schopenhauer entgegengesetzt.

Friedrich Nietzsche hat Arthur Schopenhauer und dessen Philosophie in jüngeren Jahren (ab 1865) hat eine Zeit lang bewundert und verehrt.

Im Herbst 1865 hat Nietzsche in einem Leipziger Antiquariat Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung entdeckt und erworben, Er war als Student von Bonn nach Leipzig gewechselt und aus der Burschenschaft Franconia ausgetreten. In einer trüben Stimmung hat das Buch existentielle Bedürfnisse angesprochen.

Vgl. dazu Christian Niemyer, Nietzsches Leben. In: Nietzsche-Handbuch : Leben - Werk - Wirkung. Herausgegeben von Henning Ottmann. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2000, S. 16 – 17

Nietzsche schreibt darüber in autobiographischen Aufzeichnungen „Rückblicke auf meine zwei Leipziger Jahre. 17 Oktober 1865 – 10 August 1867“:
„Ich hieng damals gerade mit einigen schmerzlichen Erfahrungen und Enttäuschungen ohne Beihülfe in der Luft, ohne Grundsätze, ohne Hoffnungen und ohne eine freundliche Erinnerung.“

„Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie. Hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt Leben und Gemüth in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das interessenlose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel. Das Bedürfnis nach Selbsterkennung, ja Selbstzernagung packte mich gewaltsam; Zeugen jenes Umschwunges sind mir noch jetzt die unruhigen, schwermüthigen Tagebuchblätter jener Zeit mit ihren nutzlosen Selbstanklagen und ihrem verzweifelten Aufschauen zur Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns. Indem ich alle meine Eigenschaften und Bestrebungen vor das Forum einer düsteren Selbstverachtung zog, war ich bitter, ungerecht und zügellos in dem gegen mich gerichteten Hass. Auch leibliche Peinigungen fehlten nicht.“

1874 veröffentlichte Friedrich Nietzsche die Schrift „Schopenhauer als Erzieher“. Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher.

  1. „Und so will ich denn heute des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessen ich mich zu rühmen habe, eingedenk sein, Arthur Schopenhauers — um später anderer zu gedenken.“

  2. „Ich ahnte, in ihm jenen Erzieher und Philosophen gefunden zu haben, den ich so lange suchte. Zwar nur als Buch: und das war ein grosser Mangel. Um so mehr strengte ich mich an, durch das Buch hindurch zu sehen und mir den lebendigen Menschen vorzustellen, dessen grosses Testament ich zu lesen hatte, und der nur solche zu seinen Erben zu machen verhiess, welche mehr sein wollten und konnten als nur seine Leser: nämlich seine Söhne und Zöglinge.“

  3. „Und doch ist dies erst nöthig um abzuschätzen, was uns, nach Kant, gerade Schopenhauer sein kann — der Führer nämlich, welcher aus der Höhle des skeptischen Unmuths oder der kritisirenden Entsagung hinauf zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet, den nächtlichen Himmel mit seinen Sternen endlos über uns, und der sich selbst, als der erste, diesen Weg geführt hat.“

Die Weltanschauung Schopenhauers hat offenbar auf Dauer nicht das gehalten, was sich Nietzsche von ihr versprochen hatte.

Wilhelm Roskamm, Mitleid. In: Nietzsche-Handbuch : Leben - Werk - Wirkung. Herausgegeben von Henning Ottmann. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2000, S. 282 – 283 meint, Nietzsches Kritik richte sich vor allem gegen die Kultivierung des Affekts Mitleid zu der zentralen Tugend und gegen die Erhebung des Mitleidens zum moralischen Heilsprinzip.

Andreas Urs Sommer, Philosophie und Theologie des 19. Jahrhunderts. In: Nietzsche-Handbuch : Leben - Werk - Wirkung. Herausgegeben von Henning Ottmann. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2000, S. 418 über das Verhältnis zu Arthur Schopenhauer (1788 – 1860):
„N.[ietzsches] ›Bekehrung‹ und spätere Anwendung von Schopenhauer gehören zu dem umstrittensten Themen der „N.[ietzsche]-Forschung."

S. 418 – 419: „Der heroische Pessimismus der Artistenmetaphysik steht ganz im Banne Schopenhauers, wiewohl sich N.[ietzsche] in seinen philosophischen Schriften nie wirklich zu einer Willensverneinungsmoral durchringt. Von Schopenhauer rühren z. B. wesentliche Momente von N.[ietzsche]s Kunstverständnis […] und auch seine Vorstellung vom weltflüchtigen und asketischen Charakter des frühen Christentums […]. Dennoch zeigen sich schon bald Anzeichen der Ablösung vom philosophischen Übervater […].“

S. 419: „N.[ietzsche] beginnt nun pointiert, seine Doktrin der Lebensbejahung gegen Schopenhauers Mitleidsethik auszuspielen […].; Schopenhauers moralische Weltordnung wird ihm zur Chimäre.“

„Ethisch heißt die Losung nun nicht mehr Willensverneinung, sondern Steigerung des individuellen Machtwillens.“

Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Streifzüge eines Unzeitgemässen. 21:
„Schopenhauer. […], ist für einen Psychologen ein Fall ersten Ranges: nämlich als bösartig genialer Versuch, zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die grossen Selbstbejahungen des „Willens zum Leben“, die Exuberanz-Formen des Lebens in’s Feld zu führen. Er hat, der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der „Verneinung“ oder der Verneinungs-Bedürftigkeit des „Willens“ interpretirt — die grösste psychologische Falschmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Geschichte giebt. Genauer zugesehn ist er darin bloss der Erbe der christlichen Interpretation: nur dass er auch das vom Christenthum Abgelehnte, die grossen Cultur-Thatsachen der Menschheit noch in einem christlichen, das heisst nihilistischen Sinne gutzuheissen wusste (— nämlich als Wege zur „Erlösung“, als Vorformen der „Erlösung“, als Stimulantia des Bedürfnisses nach „Erlösung“…)“

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Henning Ottmann , Philosophie und Politik bei Nietzsche. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Band17) , S. 84:
„Nietzsches Schopenhauerismus, obwohl Zeugnis echter Verehrung, nähert sich manchmal dem Spiel mit der Maske. Schon die Tragödienschrift war Ausdruck freier Schülerschaft gewesen; sie schwieg über die Moral des Mitleid, und schon sie opponierte stillschweigend gegen die quietistischen Züge Schopenhauerischer Metaphysik und Moral. Was den Verfasser der „Geburt der Tragödie“ an Schopenhauers Philosophie anzog, war auch in „Schopenhauer als Erzieher“ noch erkennbar, das tragische Pathos, der harte asketische Zug, die Feier des Genies, die ja auch bei Schopenhauer nicht nur als „Heilige“ und Virtuosen, sondern auch als Künstler und Kulturschöpfer zu verstehen waren. Aber, anders als die Tragödienschrift war „Schopenhauer als Erzieher“ nur noch sehr entfernt mit der Metaphysik Schopenhauers verbunden. Vorbild war nicht einmal Schopenhauers „Lehre“ von der Moral. Beispiel des Ideals wurde der „Lebenslauf“ und auch dieser wurde so idealisiert, daß er mehr über Nietzsche als über Schopenhauer verriet. „‚Nietzsche als Erzieher‘“ hätte es in Wahrheit heißen müssen.“

S. 86: „Nietzsche hat aus dem Schopenhauerischen Ethos die Mitleidsmoral ausgeklammert. Er hat sie später als Thema seiner Moralkritik wieder und wieder seziert. Der junge Nietzsche schloß sie aus seinem Heroismus aus.“

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@Albrecht

danke sehr informativ... (kleiner Tip: die Quellenangaben sind nicht immer** so** detailiert nötig :D )

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Nietzsche hat Schopenhauers Mitleidslehre tatsächlich einmal bis zu einem gewissen Grade akzeptiert, auch in seinen späteren Jahren hat er das Mitleid in der Form der Güte akzeptiert, aber völlig anders erklärt: „Güte ist Wille zur Macht“ – so steht es in seinem Nachlass: Er meinte damit, dass der „Mächtige“ über so viel Macht verfügt, dass er (oft) gerne davon etwas den „Zu-kurz-gekommenen“ abgibt. Was also hat die Sinnesänderung bei Nietzsche bewirkt? Es ist die Entdeckung des „Willens zur Macht“ („Macht“ als das verstanden, was den Menschen stark macht, z.B. Talente, Fähigkeiten, Fertigkeiten aller Art). Nietzsche ist durch Beobachtungen zu dem Schluss gekommen, dass nicht nur die Welt „Wille zur Macht und nichts außerdem“ ist, sondern auch der Mensch ist „Wille zur Macht und nichts außerdem“. Wer zum Mitleid, zur Moral, zur Nächstenliebe aufrufe, schwäche den Willen zur Macht, entweder seinen eigenen oder den der anderen, die diesem Aufruf folgen. Diese Mitleidigen, Gutherzigen und moralisch Empfindenden und Handelnden seien aber töricht, denn sie würden von den anderen (den allermeisten), die sich zu ihrem Willen zur Macht rückhaltlos bekennen, über den Tisch gezogen, die würden ihnen den Rang ablaufen. Schopenhauer sagt ja vom Mitleid, dass man, um es in sich walten zu lassen, seinen Willen (zum Leben) dämpfen müsse; für Nietzsche undenkbar. Man muss den Willen (zur Macht) gnadenlos in sich entfesseln, um ein starkes, heroisches und letztlich damit auch erfolgreiches Leben führen zu können. Das Problematische an Nietzsches „Willen zur Macht“ ist, dass er ihn schließlich absolut gesetzt hat. Letztlich läuft die Lehre (m.E.) darauf hinaus, dass der Mensch nur ein höheres, mit Vernunft begabtes Tier ist. Aber schon Kant hat aus der Vernunft die Notwendigkeit zum moralischen Handeln erschlossen (kategorischer Imperativ!). Deshalb wird immer wieder davor gewarnt, Nietzsche wörtlich, ihn ernst zu nehmen, denn wenn man das tut, „ist man verloren“ (Thomas Mann). Einer, der ihn ernst genommen hat und Nietzsches Machtphilosophie in die politische Praxis umgesetzt hat, ist bekanntlich in seinem Bunker in Berlin zugrunde gegangen. Man könnte auch mit Pascal sagen: Ohne (christliche) Moral werdet ihr zu einem Monstrum! Ich persönlich würde es so sagen: Nietzsche hat ganz vergessen, dass der Mensch eine Seele hat. – Trotzdem stellt man immer wieder verblüfft fest, wenn man sich so umschaut: so ganz Unrecht hat Nietzsche mit seiner Machtlehre nicht. Das Verhalten der Mitmenschen wird einem erst richtig klar, wenn man Nietzsches „Willen zur Macht“ im Hinterkopf hat.

Wer Mitleid erregt, greift nach der Kraft dessen, der es ihm darbietet.

Wer Mitleid darbietet, verliert seine Kraft an den unbewussten Gedanken, dass das, was in ihm Mitleid erregt, anders sein sollte, als es ist und es fehlt ihm an Respekt vor der Wahl des anderen.

Das ist meinem Gefühl nach Nietzsches Sicht.

Mitgefühl ist anders. Mitgefühl respektiert mitfühlend die Wahl des anderen.

Stimmt - das ist ein riesiger Unterschied !

Auch wenn jemand nicht die Wahl getroffen hat, z.B. krank oder behindert zu sein, dann ist das Mitleid im gemeinhin verstandenen Sinne unangebracht weil herabwürdigend und keineswegs hilfreich, hat oft einen "mildtätigen" Touch, mit dem sich die ach so Mitleidigen selber profilieren wollen während sie insgeheim denken: wie gut dass es mir besser geht ... , - was sich tatsächlich gar nicht begründen läßt, denn so manchem Rollstuhlfahrer kann es in Wirklichkeit viel besser gegen als z.B. dem. - oft derjenigen, die im Supermarkt lauthals flötet: kann ich ihnen helfen... , völlig egal, ob ein Bedarf besteht oder nicht. Solche Leute nennt man "Gutmenschen" - was keinesfalls schmeichelhaft ist weil diese Art Mitleid nichts weiter ist als Ignoranz und Egoismus.

Mitgefühl ist dagegen die Gabe, sich in die tatsächlichen Bedürfnisse des Anderen hineinzuversetzen und dabei den Zustand des Anderen unbedingt als gleich-wertig zu akzeptieren und respektieren anstatt sich selber als Helfer oder bessergestellt darzustellen.

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@veritas55

Gut beschrieben. Und mir gefällt dies in deiner Antwort sehr gut:

Mitleid ist Anmaßung, die trennt. Mitgefühl ist Empathie, die verbindet

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@Angel84

Als persönlicher Gedanke zur Ethik ist dies interesant. Als Ansatz zur Deutung von Schopenhauers Mitleidsehik gehtes aber völlig in die Irre.

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@Albrecht

@Albrecht: Damit magst du recht haben. Dennoch finde ich unsere sehr unterschiedlichen Herangehensweisen und die damit verbundenen Ergebnisse höchst interessant.

Ich (und vermutlich auch @veritas55) sind eher so gestrickt, in den eigenen Erfahrungen zu kramen und sie zu einer solchen Frage in Bezug zu setzen. Schließlich sind ja bei aller Genialität die Erkenntnisse und Schriften der Philosophen nicht zwingend als allgemeingültig und ehern zu betrachten. Es sind ihre Erkenntnisse, die sie auf ihrem Weg zu Bewusstheit und Weisheit sammeln konnten.

Du scheinst eher "der Gelehrte" zu sein, der seine "Aufgabe" darin sieht, Wissen und Weisheit anderer zu sammeln, zueinander in Bezug zu setzen und mit einer schier unermesslichen Kapazität zu speichern und auch wieder abrufen zu können.

@Albrecht, wir ticken schlicht unterschiedlich, was aber zusammenführend betrachtet sehr gehaltvoll sein kann ;-)

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Schopenhauer und Nietzsche sind zwei Philosophen mit grob gesprochen gleicher Grundausrichtung aus der epikureisch, empirischen Denkrichtung, doch auf der Basis ihres persönlichen Welterlebens, was auch manchem Begriffsverständnis einen je eigenen Zungenschlag gibt - und Mitleid ist ein solcher Begriff.

Schopenhauer ist weltgebildet aus einer eher freidenkerischen Kaufmannsfamilie, muss sich gegen eine überdominante und selbstüberzeugte, emanzipierte Mutter wehren, die ihn mit dem Hl. Goethe bekannt macht. Schopenhauers antiidealistische, fast materialistische Philosophie bringt ihn in teils gesuchten Kontrast zur Philosophie des damaligen Philosophenguru Hegel. Wie Hegel will er eine umfassende Welterklärung und findet sie in einer Ur-Energie, die er nach der Repräsentanz im Menschen als "Wille" bezeichnet. Im Gegensatz zu Hegel ist dieser Wille 'richtungslos' und teils auch sehr zerstörerisch. Andererseits jedoch sieht er als Vielgereister positive Wirkkräfte am Werk, die uns antreiben, Kultur zu produzieren, auch seine geliebte Musik. In der indischen Philosophie findet er dann Stichworte, die noch nicht idealistisch missbraucht sind und seinen Vorstellungen entsprechen: Leid als Ausdruck der "wilden" Ur-Energie, die ja auch via Willen im Menschen als zerstörerische Kraft zum Ausdruck kommen kann. Aber die indische Philosophie beschreibt auch eine lebens- und gemeinschaftsintegrierende Kraft und sieht sie im Mitleiden wirksam. So darf man bei Schopenhauer Leid und Mitleid als Bezeichnungen für umfassendere Kräfte, die auseinanderstrebende Kraft der Urkraft und die integrierende Kraft und widergespiegelt in menschlicher Kultur, die immer auch eine soziale Kultur ist.

Nietzsche ist Pfarrerssohn in einem Haushalt, in dem Frauen via "christlicher Nächstenliebe" Dominanz ausüben. Sein Vater ist kränklich und stirbt früh. Nietzsche ist kränklich und von einer peinigenden Migräne geplagt. Er wehrt sich zeitlebens dagegen, über "aufgesetztes" Mitleid ausgebeutet und missbraucht zu werden. Man will seine Schwäche nutzen, ihn noch schwächer zu machen. Mitleid also als Basis von Erpressung seiner Stärke, mit der er sich gegen sein Leiden wehrt. Als jemand, der wirklich leidet, verweigert er sich, die Welt als Leiden zu sehen. Das Christentum ist für ihn eine Erpressungsphilosophie von Schwächeren, um den Starken die Knochen zu brechen. Wer diesen Emotionen nachgibt, verliert die Kraft, den Leiden seiner Krankheit zu widerstehen, der verfällt in Selbstmitleid und wird kraftlos, hilflos. Der schopenhauersche Begriff dem Mitleidens kommt so bei Nietzsche heftig und die emotionalen Selbsterfahrungsräder. Genau besehen bedeuten "Mitleid" und "Mitleiden" bei beiden nicht das Gleiche. Ein Fingerzeig, wie man in die Irre gehen kann, wenn man sich abstrakt nur bei Begriffen aufhält. Nietzsches andere Ausrichtung kommt in der epikureisch angehauchten Aussage zum Ausdruck: "Mitfreude, nicht Mitleiden macht den Freund." Friedrich Nietzsche, Werke I - Menschliches, Allzumenschliches.

Wer jedoch "dem anderen" Nietzsche nachspüren will, lese sein Gedicht:

Vereinsamt. (1884).

  1. Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnein ―

Wohl dem, der jetzt noch ― Heimat hat!

  1. Nun stehst du starr,

Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!

Was bist du Narr

Vor Winters in die Welt ― entflohn?

  1. Die Welt ein Tor

Zu tausend Wüsten stumm und kalt!

Wer das verlor,

Was du verlorst,

macht nirgends halt.

  1. Nun stehst du bleich,

Zur Winter-Wanderschaft verflucht,

Dem Rauche gleich,

Der stets nach kältern Himmeln sucht.

  1. lieg, Vogel, schnarr

Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! ―

Versteck, du Narr,

Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

  1. Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnein ―

Weh dem, der keine Heimat hat!

Das muss beim Gedicht als Strophennummerierung 1., 2., 3., 4., 5. und 6. heißen.

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Schopenhauer erfasst mit seiner Lehre vom „Willen zum Leben“ und seiner Mitleidslehre die Totalität des menschlichen Wesens, während Nietzsche, indem er in der Schlussphase seiner Denkens im Menschen allein den Willen zur Macht verkörpert sah, nur auf einen Teil des menschlichen Wesens abzielt („Die Welt ist Wille zur Macht und nichts außerdem, und auch ihr [Menschen] seid Wille zur Macht und nichts außerdem!“). Der Mensch ist nicht (allein) „Wille zur Macht und nichts außerdem“. Wäre es so, würde er sich beispielsweise vom Wolf nur noch durch die höher entwickelte Intelligenz unterscheiden. Der Mensch aber hat eine Seele, ein Herz. Man sieht es deutlich daran, wie ein normalveranlagter Mensch auf eine schwache Kreatur reagiert: Jungtiere jeder Art (mit Ausnahme – sagen wir – schädliche Nager) rufen sofort, falls sie in Not geraten, die Bereitschaft zur Fürsorge, zum Schutz hervor. Der Wolf sieht in ihnen nur Beute und verschlingt sie. Auch der hilfsbedürftige, durch Leiden und Krankheit geschwächte Mensch ruft bei einem Mitmenschen, der im Vollbesitz seiner Kräfte ist, spontan Zuwendung und Hilfsbereitschaft hervor. Das mag der leidende Mensch oft als lästig, peinlich und unangebracht empfinden (s. Kommentar von „veritas“), hierin aber nur Ignoranz und Egoismus zu erblicken, greift zu kurz. Die spontane Zuwendung ist Ausdruck der in jedem (halbwegs normal empfindenden) Menschen ruhenden Fähigkeit, seinen Egoismus (von Nietzsche „Wille zur Macht“ genannt) zum Schweigen zu bringen oder zumindest zu dämpfen. Allein diese Fähigkeit meinte Schopenhauer, wenn er vom Mitleid sprach, und allein sie macht den Menschen erst zum „eigentlichen“ Menschen. Kein Tier ist dazu fähig. Die Tiere sind allein (um mit Nietzsche zu sprechen) „Wille zur Macht und nichts außerdem“.

Eine Ergänzung zu meinem Kommentar: Ich sagte: Egoismus ist bei Nietzsche gleich „Wille zur Macht“. Natürlich ist mit „Egoismus“ hier nicht die hässliche Charaktereigenschaft der Ichsucht gemeint, sondern ein Egoismus im weiteren Sinne. Nietzsche fordert ja den Menschen auf, alle in ihm mehr oder weniger vorhandenen Potentiale, z.B. Talente, Begabungen, Befähigungen aller Art (von ihm „Macht“ genannt), rückhaltlos zur Entfaltung zu bringen bzw. durchzusetzen. Hierzu sind die Energien des „Ego“ (Nietzsche sagt hierzu „Wille“) erforderlich. Diesen „Willen des Ego“ habe ich mit „Egoismus“ gemeint (wie gesagt: ein Egoismus im weiteren Sinne) - Die Antwort auf die von "centrinotm" gestellte Frage ist somit klar: Nietzsche lehnte eine Mitleidsethik ab, zumindest in seinen späteren Jahren. Das ergibt sich schon aus seiner scharfen Ablehnung der christlichen Moral.

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