Modernität und Rückständigkeit(Das Deutsche Kaiserreich,1871)

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Modernität und Rückständigkeit sind inhaltlich keine besonders klaren und genau abgrenzbaren Begriffe. Modern meint auf der Höhe der Zeit, der Zeit entsprechend, zeitgemäß, zu den neusten Entwicklungen passend, fortschrittlich, aktuell. Rückständig meint zurückgeblieben, überholt, altmodisch, veraltet, gestrig, die Erfordernisse der Zeit nicht mehr erfüllend, aus alter Zeit stammend und den neuesten Entwicklungen nicht mehr entsprechend. Die Begriffe haben einen gewissen zeitlichen Bezug (neu/alt), wobei aber leicht Vorstellungen von einem Geschichtsverlauf nach einem festen Muster hineinkommen.

Ein Vergleich mit anderen europäischen Staaten und dem Zustand in vorausgegangenen und späteren Zeiten kann bei der Einordnung helfen. In Deutschland können z. B. der Deutsche Bund mit seiner Gründungsakte vom 8. Juni 1815, die von der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am 28. März 1849 beschlossene Reichsverfassung (konnte nicht durchgesetzt werden) und die Verfassung des Königsreichs Preußen vom 31. Januar 1850 (eine Abänderung einer ursprünglich an 5. Dezember 1848 auferlegten Verfassung) als Bezugspunkte herangezogen werden.

Bücher über die Reichsgründung und die Verfassung 1871 können eine Unterstützung sein, z. B.:

Thomas Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie. 3., durchgesehene Auflage. München : Beck, 1995 (Deutsche Geschichte [1866 – 1918] : Band 2), S. 75 – 109

Ich entwerfe einen Vorschlag zur Einschätzung.

moderne Punkte:

  • Wahlrecht: für den Reichstag allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht für Männer ab 25 Jahren (für die damalige Zeit ein ziemlich demokratisches Wahlrecht).

  • Presse- und Meinungsfreiheit, öffentliche Diskussionen und Kritik an der Politik: Dies erfüllte Forderungen der Aufklärungszeit und der Revolution von 1848/9. 1789 wurde in der Französischen Revolution eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verabschiedet, in den USA die „Bill of Rights“ beschlossen und als erste 10 Zusatzartikel zur Verfassung rechtsgültig). In der Zeit der Restauration nach dem Wiener Kongreß hatte es in Deutschland eine starke Unterdrückung solcher Freiheiten gegeben. Die Verfassung des Deutschen Kaiserreiches von 1871 enthielt keine Grundrechte, sondern diese standen in den Verfassungen der Einzelstaaten.

  • Berufung auf Verfassung: Dies war eine Verbesserung gegenüber einem Absolutismus (Herrscher an keine geschriebene Verfassung gebunden und einem Zustand, in dem Herrscher einfach die Verfassung änderten oder auf sei wenig Rücksicht nahmen. Deutschland war eine konstitutionelle Monarchie, aber keine Demokratie (daher kann je nach Maßstab bei der Modernität eine Einschränkung vorgenommen werden).

Rückständige Punkte:

  • Macht über die Streitkräfte und in der Außenpolitik, politische und militärische Führung beim Kaiser (zugleich preußischer König): Der Kaiser war Oberbefehlshaber des Heeres (Artikel 63) und hatte das Recht, das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen (Artikel 11). Dies stand in der alten Linie einer Herrschergewalt von Monarchen.

  • Ernennung des Reichskanzlers durch den Kaiser: Diese Befugnis (Artikel 15) kennzeichnet die Verfassung als Monarchie. Das Deutsche Reich 1871 – 1918 war keine parlamentarische Demokratie, im Unterschied zu Großbritannien (Regierung war von der Zustimmung der gewählten Volksvertreter im Parlament abhängig).

  • Zensuswahlrecht in Preußen: Das preußische Dreiklassenwahlrecht (Aufteilung der Wähler nach Steueraufkommen in drei Gruppen mit unterschiedlichen Stimmenanteilen ein) war außerdem indirekt und nicht geheim. Ein Zensuswahlrecht (das es auch in einigen anderen deutschen Bundesstaten gab) steht in Widerspruch zum demokratischen Gleichheitsgrundsatz und führte zu einer nicht angemessenen politischen Vertretung bestimmter Bevölkerungsteile. Die Verbreitung weniger demokratischer Wahlrechte in Europa zeigt die in den damaligen Verhältnissen Modernität des Wahlrechts auf Reichsebene.

  • Übermacht von Herrscher und Regierung: Der Kaiser hatte das Recht, den Reichstag einzuberufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen (Artikel 12). Der Kaiser ernannte den Reichskanzler (Artikel 15) und verfügte die Ernennung und Entlassung von Reichsbeamten (Artikel 18). Die gewählte Volksvertretung (der Reichstag) konnte der Regierung nicht das Misstrauen aussprechen und sie dadurch zum Rücktritt zwingen (Abwahl), nur Kritik äußern. Es fehlte also eine volle parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung. Der Reichstag hatte nur ein gewisses Mitspracherecht (Mitwirkung an der Gesetzgebung Artikel 5 und 23, Bewilligungsrecht für den Haushalt Artikel 29). Das Deutsche Reich hatte in einem starken Ausmaß den Charakter eines Obrigkeitsstaates.

nicht eindeutig modern oder rückständig:

Bundesstaat: Auch die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat (Prinzip des Föderalismus). Föderalismus hat allerdings in der deutschen Geschichte auch eine lange Tradition. Ein Erreichen eines modernen Zustandes war der Nationalstaat (im 19. Jahrhundert war die Bildung von Nationalstaaten durch Nationen kennzeichnend). Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation oder der Deutsche Bund hatten sich in ihrer letzen Zeit deutlich als wenig entwicklungs- und gut funktionsfähig gezeigt. Föderalismus war ein im Grundsatz geeigneter Mittelweg zwischen Partikularismus und Unitarismus/zentralistischer Einheitsstaat. Einige einzelne Erscheinungen der föderalistischen Organisation können anders beurteilt werden.

VieeeLeeen DaaanK :)

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DANKE jetzt noch! Hast mir sehr gut geholfen :D

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Was war moderner die brd oder das Kaiserreich?

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@CS1997

Die Bundesrepublik Deutschland (sie gibt es auch in der Gegenwart, seit 1990 Vereinigung mit Gebieten, die zuvor die DDR bildeten) war und ist moderner als das Kaiserreich.

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Hi, aus heutiger Sicht liest sich manches rückständig, war damals aber europäische Avantgarde. Das Reich machte eine (im Vergleich mit den Nahbarstaaten (GB, F, I, R, usw.) sozial und demokratisch angelegte moerne Politik. Deutsche Produkte hatten bald Weltrang (noch vor den Briten). Bitte nicht mit Heute vergleichen, sondern aus damaliger Sicht urteilen. Und: auch hier hätte es Weiterentwicklungen gegeben. Gruß Osmond http://www.welt.de/kultur/article3955588/Das-Kaiserreich-war-moderner-als-gedacht.html

Kürzer und besser gehts nicht! DH!

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Die Gründung des Reiches selbst war mehr als rückständig.
Das Volk blieb dabei als Statist und Claqueur bestenfalls Nebendarsteller.
Die Gründung erfolgte als rein machtpolitischen Überlegungen der preußischen Politik unter Bismarck, nicht aus einer nationalen Freiheits- oder Sammlungsbewegung (also anders und rückständiger wie 1848).
Nach Außen bzw. auf dem Papier föderaler Bundesstaat, tatsächlich aber ein von Preußen als Hegemonialmacht beherrschter Staat. Österreich wurde ausgeschlossen, um die Vormachtstellung Preußens zu sichern.

Es wäre einfacher, wenn du die Punkte numeriert hättest. Aber zusammenfassend: Ausdruck von Modernität sind alle Aussagen, die Bezug nehmen auf demokratische Regeln sowie Menschen- und Bürgerrechte (Punkte 4 und 6-8). Als Ausdruck von Rückständigkeit kannst du die Regeln werten, die dem monarchischen Prinzip folgen (Punkte 1-3, 9). Punkt 5 (Dreiklassenwahlrecht) weist ebenfalls auf Rückständigkeit hin, weil er der Idee gleicher Bürgerrechte widerspricht. Interessant ist das Spannungsverhältnis, das in dieser Aufstellung zum Ausdruck kommt: Die Regeln mit Bezug zur Demokratie weisen auf die Idee der Volkssouveränität (ziemlich moderner Gedanke) hin, die Regeln zum monarchischen Prinzip folgen der Idee des Gottesgnadentums (uralte Idee). Es liegt keine Balance zwischen beiden Seiten vor, sondern im Deutschen Kaiserreich lag tatsächlich der Schwerpunkt der Macht bei einem Kaiser, der weder demokratisch legitimiert noch kontrolliert war.

ich würde sagen, dass das im allgemeinen stimmt.

der kaiser hat jedoch mit dem kriegsminister zusammen die macht über die streitkräfte.

ob die 22fürsten den preußischen könig zum kaiser ernannt haben, dass ist mir auch ein rätsel!

die preußen haben da als stärkste macht in deutschland bestimmt mächtig druck aufgebaut.

abr ansonsten stimt das hier schon alles außer die zwei von mir angesprochenen punkte