Kann jemand Feyerabend nachvollziehen?

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Ich lese gerade den Briefwechsel zwischen Paul Feyerabend und Hans Albert und das bestätigt meinen Eindruck, dass Paul Feyerabend ein sehr sympatischer, verrückter und chaotischer Kerl war, dessen Ideen und Gedankensplitter man - ähnlich wie bei Nietzsche - nie von der Hand weisen sollte, die bedenkenswert sind, die er aber selbst nie bluternst genommen hat. Was ihm bluternst war, war die Freiheit des Individuums, die er durch ZU STARRE Denksysteme eingezwängt sah. Im Grunde seines Herzens war er meiner Meinung nach ein moderner Epikureer, ein Kämpfer gegen falsche Ängste und Denkschablonen, jemand, der wie Epikur Logik und Mathematik als einzigen Zugang zur Wahrheit abgelehnt hat, für den das Funktionieren von Theorien in der Praxis der beste Maßstab war. Zugespitzt heißt es dazu in Wikipedia: "Erkenntnis für freie Menschen":

"Feyerabends zentrales Argument für die Pluralität und Gleichberechtigung der Traditionen basiert auf seinem wissenschaftstheoretischen Relativismus: Es gibt keine Tradition, die allen anderen überlegen ist und zu der einzig wahren Beschreibung der Welt führt. Traditionen sind immer nur relativ zu den Interessen, Wünschen und Zielen der Menschen besser oder schlechter. Die Durchsetzung einer einzigen Tradition in der Gesellschaft ist daher durch nichts zu rechtfertigen und einfach ein autoritäres, freiheitsfeindliches Verfahren."

Philosophie und Wissenschaft wie Politik und Religion soll den Menschen dienen, das ist Feyerabends zentraler Gedanke, der sehr an Epikurs Aussage erinnert: "Leer ist die Rede jenes Philosophen, die nicht irgendeine Leidenschaft des Menschen heilt. Wie nämlich eine Medizin nichts nützt, die nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so nützt auch eine Philosophie nichts, die nicht die Leidenschaften aus der Seele vertreibt." Diesen Grundgedanken, dass der Mensch das Maß der Dinge ist (Protagoras - Sophisten), Philosophie und Wissenschaft dem Menschen zu dienen haben, findet man immer wieder bei Feyerabend, das ist der Kern seiner "relativierenden Betrachtungen", aus denen sich kein System ergibt. Selbst ein Gedankensystem zu konstruieren, ist ihm wesensfremd. Er kommuniziert auch mit allen Philosophen und Wissenschaftlern seiner Zeit, ist trotz alledem mit Popper und seinen Anhängern befreundet. Das hält ihn nicht davon ab, ihr System der Wissenschaftstheorie, das er als zu starr ablehnt, zu kritisieren.

Feyerabend hat keine Staatstheorie. Er hat nur die Forderung, dass der Staat seinen Steuern zahlenden Bürgern zu dienen habe und nicht umgekehrt. Dass das eine - aus heutiger Sicht - wieder fast idealistisch-unrealistiche Forderung war, würde ihn nicht stören, weil ihm klar war, dass man auch auf "demokratischem Weg" in einen Überwachungsstaat mit diktatorischen Zügen und Obernannys gleiten kann. Feyerabend ist der gelebte Widerspruch gegen alles Starre und in falscher schwarz/weiß-Einfachheit vor allem Gedankenbequeme. Nicht sportschauende Kautschhocker braucht die Welt sondern widerspenstige Denker.