Ab wie viel Jahren kann man sich an die Ereignisse der Kindheit erinnern?

8 Antworten

Die 3 Jahre sind nur ein sehr pauschaler Orientierungswert! Dabei möchte ich die Sprachentwicklung nur randläufig erwähnen.

Ich muss Gizycki also widersprechen: Frühere Erinnerungen seien „eher Zeitirrtümer“, so Gizycki – und lässt damit (zum Glück!) Raum für die sehr wohl reale Erinnerung, die weiter zurückgehen kann! Frühere Erinnerungen sind für das Kind oftmals kaum beschreibbar, als auch zeitlich häufig in keine Ereigniskette eingliederbar.

Das eine hat den Grund, dass jene Erinnerungen ausschließlich in Bildern, Gefühlen, je nach Ereignis auch in der unmittelbaren Erfahrung von (nicht nur körperlichem!) Schmerz ablaufen – aber je weiter sie zurückreichen, desto strenger sind sie auch völlig losgelöst von jeglicher begrifflicher Verknüpfung (siehe Sprachentwicklung). Das andere begründet sich in der Tatsache, dass der „Kosmos“ des Kindes extrem eingegrenzt ist. So beschränkt sich – das ist nicht böse gemeint – der Horizont des frisch Geborenen auf nichts, als Schmerz (s.u.: Atmung), Hunger – und die Mutter.

So „beschränkt“ das klingt, so komplex ist es jedoch: Hunger ist eine unmittelbare tödliche Bedrohung, weil der Säugling vollkommen darauf angewiesen ist, den Hunger von außerhalb gestillt zu bekommen. Der Säugling kann selbst überhaupt keinen Einfluss darauf nehmen. Deshalb ist auch das bestgemeinte Hinhalten Erwachsener, aus welchen Gründen auch immer, nur ein Vertiefen von Todesbedrohung – aus der Sicht des Säuglings. Und „Mutter“ ist bei alledem nicht nur eine Milch- und damit Nahrungsquelle, sondern ist auch Ruhe, Geborgenheit, Frieden. Die Mutter hat den bekannten Geruch, umgibt mit bereits gewohnten Geräuschen etc. Alles, was anders ist als Monate zuvor, ist grundsätzlich eine Bedrohung. Außer, Mutter als das gewohnte Umfeld ist unmittelbar zugegen + körperlich spürbar, wahrnehmbar. UND: Was die Mutter nicht aus der Ruhe bringt, das kann aus der beschränkten Sicht des Kleinkindes heraus auch nichts Beunruhigendes sein!

Dabei ist die Bedrohungslage für das Kind unausweichlich: Der erste + wesentlichste Schock ist die Zersprengung des schützenden Kokons, den die Gebärmutter geboten hat. Man kann sich ruhig einmal vor Augen führen, dass der Begriff „Gebärmutter“ vollkommen fehl geht: Der SINN der Gebärmutter ist es nicht, zu gebären, sondern dem Fötus Schutz + Nahrung zu bieten. Der Vorgang des Gebärens zerstört diesen Schutzraum! Der Begriff „Gebärmutter“ benennt, was er meint, mit der Zerstörung seiner selbst! Aber was passiert da? Der Schutzraum stößt plötzlich ab – und gegen das Becken. Eine lange Geburt wiederum wird zur Bedrohung, weil der nicht mehr schützende Raum nicht verlassen werden kann. Und dann kommt (körperlicher) Schmerz, der die ganze Lunge erfasst: Das gesamte, bisher feuchte + nicht empfundene Körperinnere „Lunge“ wird mit trockener Luft – und Schmerz (!) – konfrontiert. Dabei ist es aber zwingend notwendig, zu atmen – und das zugleich noch heute überwiegend schlagartig, aber zumindest viel zu schnell. KEIN TIER (!) beißt die Nabelschnur durch, solange noch Leben darin pulsiert, so dass die Sauerstoffversorgung allmählich von der Blutverbindung zur Lunge übergehen kann. Nur der Mensch greift hemmungslos zu Schere oder Messer. Bei einer behutsam begleiteten Geburt geschieht das nicht!

Aber noch einmal zur Erinnerungsfähigkeit. Diese hängt also von vielen Faktoren ab: Wie tief ging ein schockierendes Erlebnis? – Überwältigend positive Ereignisse gibt es für das Kind nicht, auch wenn das nun einseitig klingen mag: Gut ist, was die Bedürfnisse befriedigt – Eindruck machen nur Ereignisse, die das Gute stören! – Wurde auf Erschreckendes so eingegangen, dass das Kind schnell wieder aus der Bedrohungslage in die Ruhe zurückfinden konnte? Oder blieb die Bedrohung lange präsent? Hat sich die Bedrohung als Muster so erheblich oder so häufig wiederholt, dass die Erinnerung abgespalten wird? Gerade in der einen o. anderen Weise extrem traumatisierte Kinder können sich oft erst an Ereignisse erinnern, da sie schon 5 oder 6 Jahre alt waren! Und endlich hängt es auch damit zusammen, wie sehr man sich selbst darauf einlässt + die Zeit findet, sich darauf einzulassen, um frühere, weiter zurückliegende Erinnerungen aufzudecken. Dabei möchte ich es nicht „Techniken“ nennen, die es ermöglichen, sich weiter zurückliegende Erinnerungen zu erschließen, weil das zu schematisch klingt. Es geht nicht darum, bei sich selbst einen „Schalter“ zu betätigen. Sondern es geht um einen „Weg“, ein Darauf-Einlassen: ein langer + kein leichter Weg, für jene, die mit traumatisierenden Ereignissen überhäuft wurden, mithin ein unermesslich schmerzvoller Weg.

Das liest sich nun sehr negativ, weil offenbar nur das Schlechte erinnerbar sei. Dem ist nicht so! Aber umfassende + ungestört positive Geborgenheit wird nicht gespeichert in Einzelereignissen, sondern als begriffsloser Zustand, der ausschließlich in der positiven Gefühlslage als So-Sein erfasst werden kann (siehe auch wieder: Sprachentwicklung).

Grüß Dich grenzenfrei0!

So ab 3 Jahren. Frühere Erinnerungen, die man meint zu haben, sind eher Zeitirrtümer.

Mit bestem Gruß

Rüdiger

Du bist das freundlichste Mitglied, dass ich hier je gesehen habe.

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@grenzenfrei0

Das freut mich jetzt sehr. Ist doch richtig schön sowas gesagt zu bekommen. Vielen Dank! Musst mich schon länger beobachtet haben, oder? :-) :-) 

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@vonGizycki

Hab hin und wieder ein paar Antworten von dir gesehen, aber Höfflichkeit ist in der Gesellschaft echt verloren gegangen, danke, dass du mir ein Teil der ,,Menschheit,, zeigst :)

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wissentschaftlich wird gesagt, mit c 3 jahren... ich erinnere mich deutlich an weihnachten 1956.. da hatte mein bruder milchscharf und bekam roehrchen um die aermchen gelgt , damit er sich nicht kratz - da war ich knapp 2 3/4 jahre alt...

Die meisten Menschen können sich nicht an Dinge erinnern, die vor ihrem 3. Geburtstag passiert sind. Das liegt einfach daran, dass das Gehirn in sehr jungem Alter noch nicht genügend entwickelt ist, um Erlebnisse im Langzeitgedächtnis zu spreichern.

Das ist unterschiedlich. eine meiner ersten Erinnerung hab ich an einen großen Schutthaufen im Badezimmer, dunkelbraune Krümel und hellgelbe Scherben.  Das Bad wurde renoviert als ich 2 - 2 1/2 Jahre alt war.

Eine weitere Erinnerung ist ein riesiger Sessel, eine faltige Hand auf der Lehne und eine drohende Stimme die "Dunnerkiel Dunnerkiel" sagt. Das war mein Uropa, er starb als ich 2 war.